Corona-Talk Reihe

Vertrauen, Verbessern, Verzeihen – Demokratie in der Pandemie

Gastbeitrag, Lesedauer ca. 5 Minuten

Autorin:

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Bundesjustizministerin a.D. &
stellv. Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Foto: Copyright Florian Gaertner Photothek.de

Es gibt eine große Gemeinsamkeit zwischen Demokratie und Pandemiebekämpfung: beide leben davon und können nur erfolgreich sein, wenn die Menschen aus eigenem Antrieb mitmachen. Deshalb hat der Satz des ehemaligen Gesundheitsministers Jens Spahn auch eine tiefere Dimension, die ihm selbst zu Beginn der Pandemie vielleicht gar nicht so bewusst war. „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Verzeihen, das setzt auf der einen Seite die Einsicht voraus, dass Fehler begangen wurden.

Für diese bittet man um Verzeihung und stellt sie gleichzeitig durch eine Kurskorrektur ab. Auf der anderen Seite setzt Verzeihen auch ein Grundvertrauen in das verantwortungsvolle Handeln der politisch Verantwortlichen voraus, also auch in deren Lernfähigkeit und Lernwillen. Ein Vertrauen darin, dass Wissensquellen erschlossen und genutzt werden und dass sich die Regierung von den Besten ihres Fachs beraten und die Beratung dann auch in Entscheidungen einfließen lässt.

In unsicherer Lage sind zunächst alle unerfahren. Der Anspruch an staatliches Handeln in einer solchen Lage muss deshalb sein, ständig dazu zu lernen, das gewonnene Wissen verständlich aufzubereiten und mit der Bevölkerung zu teilen. Herrschaftswissen aufzubauen und zu bunkern, ist nicht vertrauenserweckend. Die Einsicht in die Wirksamkeit des eigenen Handelns kann nur dann wachsen, wenn ausreichend Informationen für alle verfügbar sind. In der Psychologie gibt es das Konzept der sogenannten Selbstwirksamkeit. Dahinter verbirgt sich der Glaube daran, dass man im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten ein Ziel erreichen kann, wenn man sich konzentriert und genug anstrengt. Auch schwierige Situationen lassen sich dann meistern. Übertragen auf jeden Einzelnen im Gesamtgefüge einer Gesellschaft ließe sich das Konzept für die Pandemiebekämpfung am besten dadurch übersetzen, dass Vertrauen in die vorgeschlagenen Maßnahmen besteht und daran geglaubt wird, dass durch gemeinsame Anstrengung und Konzentration das Ziel der Maßnahmen erreicht werden kann.

Beim Corona Talk im vergangenen Sommer habe ich als hauptsächliche Learnings aus der bisherigen Pandemiebekämpfung die folgenden drei Punkte benannt:

  1. Alle Gesellschaftsbereiche müssen von Anfang an in Maßnahmen eingebunden werden.
  2. Entscheidungswege müssen verschlankt werden; wo nötig wird zentral entschieden, aber auch dezentral müssen angepasst an die Lage vor Ort Entscheidungen getroffen werden. Die Parlamente müssen beteiligt werden.
  3. Knappe Ressourcen müssen priorisiert werden. Deshalb braucht es auch ein sofortiges Umsetzen digitaler Lösungen auf allen staatlichen Ebenen, um handlungsfähig zu sein.

Aus heutiger Sicht würde ich zwei weitere Punkte aufnehmen – den Aspekt des lernenden Staates und die Notwendigkeit einer guten Kommunikation:

  • Gute Kommunikation heißt, Formen der Ansprache zu finden, die Bürgerinnen und Bürger zum Mitmachen mobilisieren. Die Bereitschaft der Bevölkerung, mitzuziehen, brauchte es in allen Phasen der Pandemie. Bei der Einhaltung der Regeln ging es um eine nachvollziehbare und an die Dynamik der Veränderungen angepasste Vermittlung der Maßnahmen. Bei der Bereitschaft zur Impfung ging es um Aufklärung über die Impfstoffe, ihre Wirkungsweise und die Notwendigkeit einer hohen Impfquote, damit unser Gesundheitssystem geschützt werden konnte. Beim Ertragen von Zumutungen und Belastungen ging es vor allem um eine empathische Ansprache der verschiedenen Lebenssituationen. Jede und Jeder hatte auf ihre und seine Weise zu kämpfen. Das anzuerkennen und sichtbar zu machen, schafft gegenseitiges Verständnis.
  • Der lernende Staat als Zielbild ist für mich vor allem im Gegensatz zum rein belehrenden Staat zu verstehen. Mit der Einrichtung des Expertenrats durch die neue Bundesregierung wurde genau diese Unterscheidung beherzigt. Die eindimensionale Sicht auf die Pandemiebekämpfung, nur mit Blick auf die Einschränkungen, die zur Verhinderung von Ansteckungen benötigt würden, wurde damit beendet. Der Rat legte in seinen ersten Stellungnahmen (siehe Auszüge im Annex) auch gleich den Finger in die Wunde – er bemängelte das Fehlen einer ausreichenden Daten- und Informationsgrundlage, um überhaupt lernen zu können.

Was passiert, wenn man nicht umfassend und faktenbasiert kommuniziert, konnte man in den letzten zwei Jahren beobachten. Die subjektive Wahrnehmung der Menschen, ihr Vertrauen in die Regierung und darin, dass ihnen zugetraut wird, eigenverantwortlich mit ihren Freiheiten umzugehen, sind stark erodiert. Besonders negativ wurden plötzliche Zielverschiebungen wahrgenommen, die nicht weiter kommentiert oder überhaupt bekannt gemacht wurden. Auch die Debatte zur Impfpflicht offenbarte die Auswirkungen dieser Zielkonfusion. Ging es noch um die Sicherung von Intensivbehandlungskapazitäten und die Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen oder ging es nun um den Schutz einzelner Gesellschaftsgruppen und einen oktroyierten Selbstschutz? Ohne eine genaue Festlegung und Kommunikation des Ziels kann auch nicht mit der Bereitschaft gerechnet werden, alles für seine Erreichung Notwendige zu tun. Oder noch ein bisschen durchzuhalten, bis das Ziel endlich erreicht ist.

Die Einschränkung von Grundrechten ist unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und zeitlich begrenzt gerade in Krisensituationen möglich. Die Pandemie war eine solche Krisensituation. Formelhafte Beteuerungen, dass Grundrechte, wenn es passt, auch „wieder zurückgegeben werden“, haben allerdings möglicherweise tieferliegende Missverständnisse offenbart. Die Grundrechte waren nie weggenommen, sie konnten nur temporär eingeschränkt ausgeübt werden. Aus anderen Ländern der Welt, denen die Pandemie ein willkommener Anlass war, die lückenlose Überwachung der eigenen Bevölkerung noch besser ausüben zu können, ist bereits von Überlegungen zu hören, getroffene Maßnahmen zumindest teilweise beizubehalten. Sowohl die Einstellung zu Grundrechten in Deutschland als auch diese Überlegungen zur dauerhaften Einschränkung von Grundrechten in anderen Staaten, dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Sie bergen die Gefahr, Grundrechte zur beliebigen Verfügungsmasse der Politik der Pandemiebekämpfung zu machen. Ein mögliches sogenanntes „democratic backsliding“ oder andere Tendenzen müssen nicht nur wachsam beobachtet, sondern es muss auch dagegengehalten werden.

In der 4. Stellungnahme des ExpertInnenrates vom 22.01.2022 heißt es[1]:

„[Es] ist sehr deutlich geworden, dass auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie in Deutschland weiterhin kein Zugang zu einigen wichtigen, aktuellen Versorgungsdaten besteht. Diese Informationen sind für ein effektives Pandemiemanagement und als Grundlage für politische Entscheidungen essentiell.“

In der 5. Stellungnahme des ExpertInnenrates vom 30.01.2022 wird festgestellt[2]:

„Ein Mangel an Übereinstimmung von verfügbaren Informationen, ihrer Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation, untergräbt das Vertrauen in staatliches Handeln und gefährdet den Erfolg von wichtigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit.“

[1] abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/2000794/f189a6b7b0f581965f746e957db90af7/2022-01-22-nr-4expertenrat-data.pdf?download=1

[2] abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/2002168/ea5301f932dafa791129440858746e0a/2022-01-30-fuenfte-stellungnahme-expertenrat-data.pdf?download=1

 

Realexperiment Corona Talk #4 – Die Perspektive von Wissenschaft & Gesellschaft

Referent:innen:

Beatrix Zurek
Leiterin der Gesundheitsreferats der Landeshauptstadt München

Prof. Dr. Moritz Schularick
Professor of Economics at Sciences Po and the University of Bonn

Natasja Senn
Head of Industry Division Public & Energy, SAP-Deutschland

Gastgeber:

Hilmar Schmidt
Managing Director, Kienbaum

Mit dem vierten Talk dieser Reihe weiten wir den Blick um die Perspektive der Wissenschaft und der Gesellschaft. Mittlerweile haben viele Forschende Lehren zusammengetragen und Handlungsempfehlungen für mehr Funktionalität des Staates in Ausnahmesituationen zusammengetragen. Darüber hinaus hat die Corona-Pandemie und die Art von Staat & Verwaltung damit umzugehen erhebliche Eindrücke – manchmal auch zwiespältiger Art – in der Gesellschaft hinterlassen. Dies wollen wir zum Abschluss unserer Veranstaltungsreihe aufarbeiten.

  • Welche Strukturen sind wichtig für effizientes staatliches Management in Ausnahmesituationen?
  • Wie können Staat & Verwaltung das Vertrauen der Gesellschaft in die Funktionalität der Institutionen weiter sichern?
  • Was sollte jetzt getan werden, um für die Zukunft in der Verwaltung gerüstet zu sein?

Realexperiment Corona #3 – Start-Ups und Gov-Techs als Booster für die Weiterentwicklung

Referent:innen:

 

Stephanie Kaiser
Mitglied des Digitalrats der Bundesregierung

 

Dr. Markus Richter
Staatssekretär, Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik

Moderation:
 

 

René Ruschmeier
Director, Kienbaum

Mit dem dritten Talk dieser Reihe wenden wir uns dem Aspekt der Digitalisierung zu.

  • Welchen Beitrag wird die Digitalisierung in Zukunft zu einer verbesserten Staatsfunktionalität leisten?
  • Welche Rolle spielen GovTechs zukünftig als Treiber der Weiterentwicklung der Staatsfunktionalität?
  • Wird die nächste Krise mit Daten und Apps besser gemanged? Was brauchen wir dafür, damit das gelingt?

Realexperiment Corona #2 – Werden wir für zukünftige Krisen daraus lernen?

Referent:innen:

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Bundesjustizministerin a.D. &
stellv. Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Foto: Copyright Florian Gaertner Photothek.de

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest
Präsident, ifo Institut München
Foto: Copyright ifo Institut – Romy Vinogradova

Moderation:

 

René Ruschmeier
Director, Kienbaum

Mit steigender Impfquote und wärmeren Wetter steigt die Hoffnung, die Pandemie bald zu überwinden. Gleichzeitig verblasst die Erinnerung an die Herausforderungen der letzten 15 Monate, die durch Staat und Verwaltung nicht immer optimal gemanaged wurden.

Bevor wir die Dysfunktionalitäten des Pandemie-Managements endgültig hinter uns lassen, sollte ein Resümee gezogen werden.

  • Was kann der Staat in einer kommenden Krise besser machen?
  • Was hat gut funktioniert und sollte wieder so gemacht werden?
  • Was muss unbedingt überarbeitet, reformiert oder endgültig überwunden werden?

Mit dieser Veranstaltung setzten wir die im April begonnene Reihe „Realexperiment Corona“ fort.

Mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger haben wir den Blick auf das Spannungsfeld aus Staatsfunktionalität und staatlich garantierten Freiheitsrechten. Prof. Dr. Clemens Fuest erweiterte den Blick um die wirtschaftliche Perspektive – auch im internationalen Vergleich -. Gemeinsam haben wir Handlungsfelder zur Überwindung von Dysfunktionalitäten bei Staat und Verwaltung skizziert.

Realexperiment Corona – Braucht Deutschland ein Grundrecht auf funktionierende Verwaltung?

Referenten:

Georg Maier
Thüringer Minister für Inneres und Kommunales

Dr. Stephan Keller
Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf

Dr. Hilmar Schmidt
Managing Director/ Partner, Kienbaum

René Ruschmeier
Director, Kienbaum

Das Management der Corona-Lage ist seit über einem Jahr geprägt von viel gutem Willen und hohem Engagement in der Verwaltung. Gleichzeitig darf der Blick nicht verstellt werden auf durch die Krise in besonderem Maße deutlich gewordenen Entwicklungsbedarf für die Funktionalität der öffentlichen Verwaltung. Strategiefähigkeit und Digitalisierung, Effizienz und Wirksamkeit stehen im Fokus – wir nennen es kurz Staatsfunktionalität. Die Erfahrungen der Corona-Zeit legen dabei nur den Blick frei auf strukturelle und prozessuale Herausforderungen, die auch in anderen Politikfeldern und Bereichen der Verwaltung zu finden sind. Insgesamt haben sie allerdings das Potenzial, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu gefährden und populistischen Initiativen Raum zu geben. Was tun?

Mit ausgewiesenen Experten diskutieren wir drei Ansätze für eine zukunftsfeste Verwaltung, die wir aus unserer Beratungsexpertise heraus entwickelt haben:

  1. Einführung eines Grundrechts auf eine funktionierende Verwaltung
  2. Etablierung eines „Deutschen Verwaltungs-Standards“
  3. Initialisierung einer Institution zur Durchsetzung dieser Rechte und der Standards

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