Speed over Synergies

Speed over Synergies

Siemens' Transformationsreise von einer zentralisierten, kostengetriebenen IT Organisationsstruktur zu einem agilen, flexiblen IT Operating Model - Ein Gespräch mit Dr. Helmuth Ludwig, CIO, Siemens AG.

Dr. Helmuth Ludwig (56) ist seit Oktober 2016 Chief Information Officer beim Technologiekonzern Siemens in München und verantwortet die globale Siemens IT. Mit der Übernahme der CIO Funktion hat sich Ludwig vor 2,5 Jahren für einen Reset der IT entschieden und zugleich den Startschuss für das globale IT Transformationsprojekt gegeben. Aus einer Strukturperspektive sieht das neue IT Operating Model sowohl eine Teilrückführung von heute noch zentralisierten IT Services in die operativen Geschäftseinheiten vor, als auch die Einführung einer produktbasierten IT Organisation entlang der drei Kernrollen Value Center, Account Management und UseIT. Im Gespräch mit Dr. Cyrus Asgarian, Kienbaum Partner und Gesamtverantwortlicher für das Beratungsfeld ‚Organization‘, beleuchtet Ludwig die Beweggründe für die agile Neuausrichtung der IT-Funktion seines Unternehmens, der Einführung der produktbasierten anstelle von prozessbasierten Organisationsstruktur sowie die wesentlichen Vorteile, die er sich von dem neuen IT Operating Model verspricht. Im Fokus steht der Paradigmenwechsel der IT von einer eher kostengetriebenen hin zu einer flexibleren, agileren Lieferstruktur.

Asgarian Herr Dr. Ludwig, nach Ihrem Ingenieursstudium an der Universität in Karlsruhe und Ihrer Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel begannen Sie vor 29 Jahren Ihre berufliche Laufbahn bei der Siemens AG. Hier haben Sie verschiedene Stationen im In- und Ausland durchlaufen und waren u.a. CEO der Industrie Sparte in Nordamerika und Präsident der Siemens PLM Software. Im Jahr 2016 wurden Sie zum CIO der globalen Siemens IT berufen. Welche Ausgangssituation haben Sie bei der Siemens IT nach der Übernahme des CIO Postens vorgefunden? Was prägte die DNA der Siemens IT zu dieser Zeit?

Ludwig Zu dem Zeitpunkt als ich die Verantwortung als Konzern-CIO übernommen habe, war die IT sehr stark zentralisiert. Die Idee der starken IT-Zentralisierung bzw. -Harmonisierung zielte insbesondere auf die unternehmensübergreifende Vereinheitlichung von Geschäftsprozessen und damit auf die Hebung von Synergien ab. Zu dieser Zeit war auch das Konzernumfeld von Einsparungsprogrammen geprägt und die IT hat hier stets einen wesentlichen Beitrag geleistet. So sah beispielsweise das Siemens-weite Kosteneinsparungsprogramm ‚1 by 16‘ Einsparungen in den Zentralen in Höhe von einer Milliarde Euro vor. Hierbei hat die IT den größten Anteil erbracht und ihre Ziele nicht nur erfüllt, sondern mit großem Erfolg übererfüllt. Dies verdankten wir unserem damaligen starken Fokus auf Standardisierung und Effizienz. Als Nebeneffekt ergab sich jedoch, dass wir Faktoren wie Kundenzufriedenheit oder die noch viel wichtigere Endanwender-Zufriedenheit nicht immer ausreichend berücksichtigt haben. In der Folge war uns schnell klar, dass wir die IT deutlich näher am Geschäft ausrichten müssen. Auch die regionale Verortung unserer IT-Organisation haben wir kritisch hinterfragt. Ist die Verteilung unserer IT-Mitarbeiter so noch zeitgemäß und haben wir unsere Mitarbeiter wirklich dort, wo sie gebraucht werden? Eng damit verbunden stand die Frage, ob das heutige IT Set-Up uns ausreichend Zugang zum Potenzial an globalen Talenten bietet. Basierend auf diesen Rahmenparametern haben wir uns schließlich vor 2,5 Jahren für eine Art ‚Reset‘ unserer IT-Organisation entschieden.

Asgarian Mit diesem Reset haben Sie zugleich den Startschuss für das globale IT Transformationsprojekt gegeben. Wo genau muss sich Ihrer Ansicht nach die Siemens IT an veränderte Marktgegebenheiten anpassen und welche Rolle spielen unternehmenspolitische Entscheidungen, wie beispielsweise der ‚Fleet Of Ship‘ Ansatz, mit dem den einzelnen Sparten u.a. mehr Freiraum und Verantwortung gegeben werden soll, bei der strategischen Neuausrichtung der IT-Funktion?

Ludwig Wir beobachten im Unternehmen natürlich die Megatrends wie Globalisierung, Urbanisierung, demografischen Wandel, etc. Ein ganz wichtiger Trend ist die Digitalisierung, die ausnahmslos alle unsere Geschäfte beeinflusst. Eine Komponente der Siemens Geschäftsstrategie ist, dass Digitalisierung nicht die Aufgabe einer einzelnen Abteilung ist, sondern inhärenter Bestandteil eines jeden Geschäfts und sämtlicher Unternehmensfunktionen. Dementsprechend haben wir als IT gemeinsam mit dem Geschäft mittels Trend-Analysen relevante Themen identifiziert, um diese dann gemeinsam aktiv voranzutreiben. Ein Erfolgsbeispiel hierfür ist der ‚Digital Twin‘, durch dessen Einsatz im Design-, über den Produktions- bis zum Performanceprozess eines Produkts wir enorme Produktivitätsgewinne erzielen und einen Zuwachs an Geschwindigkeit und Flexibilität erreichen, der sich dann am Markt als echter Wettbewerbsvorteil für unser Geschäft manifestiert

Die Steigerung der IT-Innovationskraft und damit auch eine Verbesserung des Change/ Run Ratios sind für uns zentrale Anliegen.

Grundsätzlich gilt es, das Application Management möglichst effizient aufzustellen, um so Ressourcen für Innovationsprojekte freizusetzen.Wir investieren kontinuierlich in neue Projekte, die den Ausgangspunkt für Innovationen darstellen. Um jedoch fokussiert an den relevanten Zukunftsthemen arbeiten zu können, ist es notwendig, den Verantwortlichen auch die hierfür notwendigen Entscheidungsfreiräume zu geben. Wir führen mittlerweile einen großen Teil unserer Projekte nach agilen Prinzipien durch und schaffen damit die Möglichkeit, Projekte nach jedem Sprint neu zu priorisieren, ggf. einzustellen und daraus zu lernen. Auf diese Weise vermeiden wir, dass Projekte Ressourcen binden, die sich als weniger vielversprechend herausstellen, als zunächst angenommen. Das geht natürlich nicht ohne einen gewissen Kulturwandel. Letztendlich beeinflusst auch die Änderung der Siemens Unternehmensstruktur in Operating Companies, Strategic Companies, Portfolio Companies und Service Companies das IT Operating Model. Die neue Unternehmensstrukturbietet den jeweiligen Einheiten zusätzliche Freiheitsgrade. Wir sind davon überzeugt, dass der positive Effekt von schnellen Entscheidungen für die jeweiligen Märkte wichtiger ist als die letzte Kommastelle in der Synergie. Dieser Grundgedanke muss sich selbstverständlich auch in der IT-Aufstellung niederschlagen.

Asgarian Das bedeutet in der Konsequenz einen klaren Paradigmenwechsel der IT von einer eher kostengetriebenen hin zu einer flexibleren, agileren Lieferstruktur. Wie lässt sich dieser angestrebte Paradigmenwechsel in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Ludwig In der Tat können wir hier von einem Paradigmenwechsel sprechen. Man könnte es in einem Satz zusammenfassen: ‚Speed over Synergies.‘ Dies bedeutet jedoch nicht, dass Synergien in Zukunft keine Rolle mehr für uns spielen, aber unser Fokus ändert sich. Wir werden natürlich auch weiterhin die Stärke von Siemens als Ganzes nutzen, allerdings mit der klaren Maßgabe, Geschwindigkeit in Entscheidungsprozessen zu erzielen, und auf Chancen, die sich in Märkten bieten, schnell zu reagieren. – Dies ist die große Maxime, die ganz vorne steht. In diesem Kontext haben wir beispielsweise die Hierarchiestufen in der IT um rund 30 Prozent gekürzt und arbeiten nun noch stärker hierarchieübergreifend und kompetenzbasiert zusammen. So sind wir in der Lage, schneller Entscheidungen zu treffen – auch wenn es darum geht, neue Projekte zu initiieren oder nicht weiter zu verfolgen.

Asgarian Für das Jahr 2020 haben Sie sich klare Ziele gesetzt,die mittels der laufenden IT-Transformation erreicht werden sollen. Die Ziele reichen von der Verbesserung der Kundenzufriedenheit und Service Reliabilität bis hin zum Thema Mitarbeiterzufriedenheit und Great Place to Work. Was sind für Sie die wichtigsten Ziele auf Ihrer Agenda 2020? Könnte man die Kundenzufriedenheit als zentrales Ziel verstehen, nach dem sich alles richtet?

Ludwig Das ist richtig, denn das übergreifende Ziel stellt für mich die Anwender- und Kundenzufriedenheit dar. Den Kunden verstehen wir als fachlichen oder hierarchischen Repräsentanten eines Geschäftsbereichs, den Anwender als jenen Personenkreis, der praktisch täglich unsere IT-Anwendungen nutzt. Hierbei sind beide genannten Gruppen für uns von zentraler Bedeutung.
Der Anwender muss jeden Tag spüren, dass er bestmöglich unterstützt wird und auch aus einer Kulturperspektive fest in der IT-Organisation verankert ist. Alle weiteren Punkte lassen sich aus diesem Ziel ableiten. Kosten spielen natürlich weiterhin eine Rolle, das heißt unsere Maßnahmen müssen wertschaffend sein. Zudem ist Geschwindigkeit von zentraler Bedeutung. Wenn wir Lösungen zu spät entwickeln, dann sind sie nicht mehr von Nutzen. Von hoher Priorität ist für mich darüber hinaus das Thema IT Security. Die Thematik ist manchmal schwer zu greifen und kann kurzfristig sogar zu einer Verringerung der empfundenen Anwenderzufriedenheit führen – z.B. aufgrund von Sicherheitsrichtlinien zur Eingabe komplexerer Passwörter. Langfristig gilt es jedoch, unsere Anwender zu schützen und ihnen das notwendige Wissen über Cyberangriffe und damit verbundene Risiken zu vermitteln.

Asgarian An dieser Stelle möchte ich den Aspekt der Mitarbeiterzufriedenheit gerne nochmals aufgreifen und tiefer beleuchten. Was versprechen Sie sich von einer hohen Mitarbeiterzufriedenheit und wie charakterisieren Sie einen zufriedenen Mitarbeiter?

Ludwig Zunächst ist meiner Meinung nach der Begriff ‚Mitarbeiterzufriedenheit‘ nicht optimal gewählt. Zufriedenheit kann mit einer gewissen Passivität einhergehen. Man kann beispielsweise auch zufrieden sein, weil man sich in seinem Status Quo wohl fühlt. Die zentrale Fragestellung lautet doch vielmehr: Wie schaffen wir es, dass unsere Mitarbeiter engagiert sind? Engagement im Sinne einer Freude am kontinuierlichen Verbessern und Lernen, die uns antreibt und Begeisterung schafft, auch in schwierigen Zeiten. Ehrliches und echtes Engagement schafft auch persönliche und organisationale Resilienz. Ein hohes Mitarbeiterengagement schlägt außerdem direkt auf das Niveau an Zufriedenheit bei unseren Kunden und Anwendern durch. Insbesondere in Zeiten hoher Veränderungen ist dies jedoch nicht einfach umzusetzen. Daher ist es elementar, dass die Mitarbeiter das ‚Warum‘ der Transformation verstehen. Und da sage ich Ihnen ganz offen, das kann gar nicht umfassend genug adressiert werden.

Asgarian Ihren Ausführungen folgend ist es von zentraler Bedeutung, dass Mitarbeiter das ‚Warum‘ der Transformation richtig verstehen. Demzufolge haben Sie sich im Rahmen der Entwicklung des ‚New Way of Working‘ auch für einen beteiligungsorientierten Ansatz entschieden. Welche anderen Maßnahmen haben Sie angestoßen, die auf den ‚New Way of Working‘ einzahlen? Welche Leuchttürme sind hier besonders erwähnenswert?

Ludwig Ja, das ist richtig. Unsere neue Art zu arbeiten halte ich für besonders erfreulich. Hierbei ist der ‚New Way of Working‘ nicht von heute auf morgen top-down definiert worden. Wir haben, wie bereits erwähnt, einen partizipativen Ansatz gewählt.

Dabei haben wir den ‚New Way of Working‘ im Rahmen von Proof of Concepts (PoCs), in die wir schrittweise immer mehr Mitarbeiter involviert haben, gemeinsam erarbeitet.

Zum Schluss belief sich das Involvement auf rund 1.000 Mitarbeiter, sowohl aus der IT als auch aus dem Geschäft. Unser neues Operating Modell ermöglicht es uns, über viel weniger Hierarchieebenen hinweg zusammenzuarbeiten, sich stärker an den fachlichen Fähigkeiten zu orientieren und mittels agiler Arbeitsweisen zu schnelleren Ergebnissen zu gelangen. Weitere erwähnenswerte Leuchttürme sind in diesem Kontext beispielsweise unser Hackathon oder unsere ‚Futureland‘ Initiativen des von uns gegründeten Start-Ups ‚Idea‘. Für diese selbstorganisierten Aktivitäten werden Mitarbeiter für einen gewissen Prozentsatz von ihrer Arbeitszeit freigestellt, um sich so neuen Projekten im Unternehmen widmen zu können. Hier haben wir in der Vergangenheit einen enormen Zulauf, einen großen Netzwerkeffekt und eine hohe Motivation beobachtet.

Asgarian An das Stichwort New Operating Modell anknüpfend: Aus einer übergeordneten Strukturperspektive sieht das neue IT Set-Up zunächst einmal vor, dass wesentliche Teile der IT wieder zurück in die operativen Businesseinheiten verlagert werden. Es handelt sich um eine Größenordnung von rund 50 Prozent der IT Belegschaft. Würden Sie sagen, dass zentrale und doch geschäftsnahe Interessen ein Stück weit ausbalanciert werden müssen?

Ludwig Die wesentliche Frage ist zunächst: Was ist das Konglomerat der Zukunft in einem Umfeld, das sich exponentiell verändert? Hier kann Siemens hinsichtlich der Aufstellung sicherlich als ein Paradebeispiel genannt werden. Wir werden aber voraussichtlich erst innerhalb der nächsten zehn Jahre erfahren, ob wir exakt die richtigen Schritte gegangen sind und wo wir nachbessern müssen. Was wir allerdings jetzt schon sicher wissen: wenn wir diesen Weg nicht gehen, besteht eine große Gefahr, dass wir in zehn Jahren auf dem Markt nicht mehr relevant sind. Vor diesem Hintergrund haben wir die Unternehmensstrukturen kritisch geprüft und neu ausgerichtet. Dabei setzen wir die neuen Unternehmensstrukturen in allen Funktionen des Unternehmens – und nicht nur in der IT – konsequent um. Wir möchten die Geschäfte in ihren Veränderungen unterstützen und da spielt die IT eine Schlüsselrolle. Insbesondere wenn wir über Veränderungen sprechen, die digital induziert sind. Ich bin sicher, dass es für Siemens der richtige Weg ist.

New services and projects… following new ways of working

Asgarian Durch die Verlagerung der geschäftsnahen IT Services in die Fachbereiche könnte der Eindruck entstehen, dass die zentrale IT nur noch einen Provider für Commodity Services darstellt. Welche Rolle kommt der zentralen IT zukünftig für Innovation und Digitalisierung noch zu? Spielt die zentrale IT für solche Themen überhaupt noch eine Rolle?

Ludwig Der Begriff ‚Commodity Services‘ hat oftmals einen negativen Beigeschmack. Dies trifft bei uns nicht zu. Die Corporate IT wird kein Lieferant für Commodity Services sein, sondern vielmehr Plattform Provider. Wir stellen dem Unternehmen alle wesentlichen IT Plattformen zur Verfügung, auf die die einzelnen Geschäfte individuell aufbauen können, von Infrastruktur- bis zu Software-Plattformen wie ERP oder CRM. Diese müssen innovativ, sicher und skalierbar sein. Wir müssen flexibel auf Veränderungen reagieren können. Wir bewegen uns weg aus der Welt reiner Monolithen. Die früheren monolithischen Lösungen, die stark für die einzelnen Geschäfte individualisiert waren, führen zu einer relativ hohen Inflexibilität und signifikanten Lebenszykluskosten. Die Aufgabe der Corporate IT ist es, einen Wettbewerbsvorteil für das Unternehmen zu generieren, indem wir starke und sichere Plattformen mit entsprechenden Grundfunktionalitäten für unsere Geschäftseinheiten zur Verfügung stellen. Somit spielen Digitalisierung und Innovation auch weiterhin in der Corporate IT eine zentrale Rolle.

Asgarian Kommen wir nun etwas konkreter auf das neue IT Operating Model zu sprechen. Dieses wird im Wesentlichen durch fünf Bausteine determiniert – von Technologie über Prozesse und Set-Up zu People und Kultur. Die Neuausrichtung der Corporate IT verfolgt somit einen ganzheitlichen Ansatz. Zunächst zur Technologie Dimension. Hier soll sich die Siemens IT stärker auf differenzierende Themen wie beispielsweise Artificial Intelligence, Data Analytics und einer Enablement Rolle des SW Ecosystems fokussieren und zugleich den Anteil an SaaS Lösungen und industrialisierten IT Services konsequent
erhöhen. Was ist für Sie das Herzstück der technologischen Neuausrichtung der Corporate IT?

Ludwig Das Herzstück ergibt sich aus den Rahmenbedingungen, die für die Plattformen gelten. Zuallererst betrifft dies den Aspekt der Daten, das heißt, welche wesentlichen Daten müssen im gesamten Unternehmen harmonisiert werden? Zweitens basiert es auf Standardprozessen, die in der Regel in Cloud-Plattformen abgebildet werden. Damit ist es absolut skalierbar und wir sind in der Lage, sehr schnell
auf Schwankungen in der Nachfrage zu reagieren. Und zu guter Letzt steht, wie bereits angemerkt, der Aspekt der Sicherheit im Vordergrund. Werden wir in einem kleinen, abgrenzbaren Feld attackiert, ist dies verkraftbar. Werden allerdings Kernplattformen angegriffen und daraus ein signifikanter Informationsabfluss oder Beeinträchtigungen in der Funktionalität ausgelöst, stellt dies ein hohes Risiko für das gesamte Unternehmen dar, das vermieden werden muss.

Asgarian Value Center, Account Management und UseIT bilden die Basis bzw. die Kernelemente für das neue funktionale Set-up der Corporate IT. Was verbirgt sich hinter diesen strukturellen Bausteinen und wie ist das Zusammenspiel zwischen diesen Kernelementen ausgestaltet?

Ludwig Value Center bilden die Einheiten, in denen, wie der Name schon sagt, Mehrwert geschaffen wird. – Unsere intelligenten IT-Fabriken. In den Value Centern erfolgt zwar keine umfassende Software-Entwicklung, aber es wird die Auswahl der richtigen Komponenten getroffen, die Implementierung begleitet und auch die Instandhaltung und Pflege vorgenommen. Das Account Management beschreibt die IT-Partner, die direkt mit den Geschäftseinheiten zusammenarbeiten und dort in Zukunft auch organisatorisch angesiedelt sind. Sie stellen das Sprachrohr der IT in das Geschäft und – mindestens genauso wichtig – das Sprachrohr des Geschäfts in die IT dar. Die UseIT halte ich für eines der zentralen Elemente. Auch die beste IT-Anwendung schafft keinen Wert, wenn sie falsch oder gar nicht genutzt wird. Die UseIT begleitet die Anwendungen über Trainings, über dedizierte Einführungsstrategien, eine adäquate Kommunikation und natürlich die Betreuung der User – auch persönlich und vor Ort, zum Beispiel in unseren TechBars.

Asgarian Wesentliches Strukturierungselement der Organisation stellen damit die Value Center dar. Hier sind zusammengehörige IT Services gebündelt. Das Operating Model ist damit auf oberster Ebene nach IT Produkten anstelle von IT Prozessen ausgerichtet. Hat das klassische Plan-Build-Run Konstrukt ausgedient?

Ludwig Oberste Priorität in den Value Centern hat die Ende-zu-Ende-Verantwortung. Hier werden die Anforderungen an ein hoch performantes System mit der notwendigen Kompetenz- und Ressourcenausstattung verbunden. Hierzu zählen auch interdisziplinäre Teams, die direkt mit dem Kunden zusammenarbeiten. Mitarbeiter des Kunden sind beispielsweise Teil der Sprints und in der Lage, im gesamten Prozess anhand von MVPs Feedback zu geben. Das traditionelle Plan-Build-Run Vorgehen wird somit in schnellere, kürzere Schritte aufgeteilt, die direkte Rückkopplungsschleifen ermöglichen. Wir haben sozusagen heute ganz viele, kleine und schnelle Plan-Build-Runs, das heißt, das klassische Wasserfallmodell wird von einer agilen Vorgehensweise abgelöst.

Asgarian Das Value Center, welches für die End-to-End Serviceerbringung verantwortlich ist, besteht wiederum aus drei Kernrollen – dem Value Center Lead, dem Service Owner und dem Chapter Lead. Was verbirgt sich hinter diesen Rollen?

Ludwig Ja, die Differenzierung der drei Rollen ist wichtig. Die klare Ende-zu-Ende-Verantwortung liegt bei dem Service Owner. Das heißt, dieser muss sicherstellen, dass der Service wie gewünscht und vereinbart tatsächlich beim Anwender ankommt. Dementsprechend ist das Themenfeld Innovation auch dort angesiedelt. Der Ressourcenbedarf für einzelne Services schwankt über deren Lebenszyklus. Um diese Schwankungen auszugleichen, differenzieren wir zwischen den sogenannten Chapters und den Service Lines. Den Service Lines wird es ermöglicht, sich jeweils für die zu bewältigende Aufgabe die notwendigen Ressourcen im Chapter zu beschaffen. Die langfristige Entwicklung der Mitarbeiter hingegen liegt in der Verantwortung der Chapter Leads, die sich sehr ambitioniert und fokussiert um die Weiterentwicklung unserer Mitarbeiter kümmern. Dem Service Owner wird dadurch ermöglicht, sich konsequent auf seine Serviceerbringung zu konzentrieren.

Asgarian Kommen wir kurz auf die neue Rolle des Chapter Leads zu sprechen. Die Chapter Leads fungieren im neuen Operating Model demzufolge als disziplinarische Führungskraft für die Mitglieder ihres Chapters und fokussieren auf Fragestellungen der Mitarbeiterentwicklung. Damit stellen die Chapter Leads eine Art People Manager dar. Es gilt also, die fachliche IT Expertise der Chapter Leads zunehmend durch People Development Kompetenzen zu ergänzen. Im Allgemeinen könnte man davon ausgehen, dass es schwierig ist, Akzeptanz bei den betroffenen Mitarbeitern für diese Rolle zu finden, da die Betroffenen sowohl vom Kunden als auch von der Serviceerbringung weg rücken. Welche Hebel bedienen Sie, um Akzeptanz für dieses neue Rollenmodell zu schaffen?

Ludwig Zunächst einmal stelle ich fest, dass es individuell sehr unterschiedlich ist, wie Menschen mit den Rollenveränderungen zurechtkommen. Einigen fällt es sehr leicht, sich mit der neuen Rolle zu identifizieren, anderen fällt es schwerer. Ich setze in diesem Kontext stark auf unsere sehr erfahrenen und hoch engagierten Value Center Leiter, die genau diese Balance zwischen den Chapter Leads und den Serviceverantwortlichen leisten. Ich bin da sehr optimistisch, aber auch nicht blind. Es bedarf einer gewissen Begleitung und ist sicherlich auch eine Change-Aufgabe. Schließlich bin ich der Meinung, dass wir gemeinsam durch eine Lern-Erfahrung gehen und uns so sukzessive und vor allem gemeinsam dem Zielzustand nähern.

Asgarian Durch die Einführung der neuen Rollen wird sich auch das Modell der Zusammenarbeit innerhalb der IT grundlegend verändern. Sie streben hier einen ‚New Way of Working‘ an, welcher insbesondere durch die Verankerung von drei grundlegenden Prinzipien in der Organisation zum Leben erweckt werden soll und als Leitbild für das zukünftige IT Operating Model gilt. Was ist genau unter dem von Ihnen angestrebten Zusammenarbeitsmodell zu verstehen und wie lassen sich die drei Prinzipien (1) ‘Create customer value fast’, (2) ‘Take and give responsibility’ und (3) ‘Innovate und grow’ konkret beschreiben bzw. operationalisieren?

Ludwig Richtig, wir haben drei grundlegende Prinzipien definiert, die unser neues Zusammenarbeitsmodell leiten sollen. Das Prinzip ‚Create customer value fast‘ fasst alle Aspekte rund um die Dimension Kundenorientierung zusammen. Hier geht es um vor allem um die Frage, worin der tatsächliche Wertbeitrag für den Kunden liegt, und wie wir sicherstellen, dass wir diesen auch in einem angemessenen Zeitrahmen realisieren. Kundenorientierung ist für uns im Grunde genommen das Herzstück des agilen Arbeitens. Es bedeutet schnelle Feedback Loops, Design Thinking, und schnelle Minimum Viable Solutions. Der Grundsatz ‚Take and give responsibility‘ beschreibt unseren Ansatz, dass der fachliche Inhalt vor der Hierarchie kommt. Hier ist die Grundsatzregel ‚Kompetenz führt‘ maßgeblich. Die Personen, die über die notwendige Kompetenz verfügen, sollten auch zukünftig die Entscheidungsverantwortung haben.

Die Leitlinie ‚Innovate and grow‘ beschreibt zum einen die Innovation, die wir über Systeme und Plattformen voranbringen und zum anderen aber auch das individuelle Wachstum der Menschen. Mit Letzterem schließt sich auch der Kreis zum Mitarbeiterengagement. Mitarbeiter sind am engagiertesten, wenn sie persönlich dazulernen, sich weiterentwickeln können. Ich glaube, die Menschen in der IT sind besonders begeisterte Lerner und wollen jeden Tag etwas dazulernen. Und das Großartige an der IT ist, dass es keinen Bereich gibt, in dem man nicht jeden Tag etwas dazu lernen kann. Damit es nicht allzu theoretisch bleibt, lassen Sie mich einige praktische Beispiele anführen. Wie bereits erwähnt, haben wir die Hierarchiestufen in der IT um 30 Prozent gekürzt, wodurch wir eine bewusste Veränderung unserer Entscheidungsstrukturen herbeigeführt haben. 40 Prozent unserer Projekte erfolgen mittlerweile in einem agilen Set-up und wir investieren in virtuelle wie auch physische Trainingsmaßnahmen. Des Weiteren fördern wir unterschiedliche, zum Teil selbstorganisierte Initiativen zum hierarchieübergreifenden Arbeiten, wie z.B. Working out Loud, an denen auch ich selbst aktiv beteiligt bin.

Ich bezeichne mich selbst als Lernenden. Und das wird auch mein Leben lang so sein. Um bestimmte Themen auch authentisch weitergeben zu können, muss man eben auch Teil davon sein.

Asgarian Nach vorne geschaut: Wie sieht die Siemens IT in fünf Jahren aus, was ist Ihre langfristige Vision? Ist die Reise jemals zu Ende?

Ludwig So eine Reise ist natürlich nie wirklich zu Ende. Ich sehe die IT als eine lebendige, lernende Organisation. Unsere Mitarbeiter sind in der Lage, mit umfassenden Veränderungen zurechtzukommen und ihre Erfahrungen, die Veränderungsbereitschaft, Offenheit und Flexibilität auch sehr erfolgreich in die Geschäfte zu übertragen und das Unternehmen auf diese Weise mit nach vorne zu bringen. Die ganz große Stärke der Mitarbeiter in der IT ist, dass sich für sie je den Tag neue Anwendungen, Möglichkeiten und Architekturen ergeben. Das ist für sie schon so natürlich, dass man gar nicht mehr merkt, wie besonders es eigentlich ist. Und wenn Sie diese Kompetenz mit dem starken Domain-Knowhow in den so vielen unterschiedlichen Industrien in Siemens kombinieren, dann ist diese Kombination auch langfristig unschlagbar.
Damit wird es auch weiterhin Opportunitäten geben, sowohl für die IT Mitarbeiter als auch für unsere Mitarbeiter im Geschäft. Von hoher Wichtigkeit bleibt in diesem Kontext der stetige und offene Austausch.

Asgarian Eine abschließende Frage: Welchen Rat würden Sie Ihren CIO-Kollegen geben, die sich auf eine ähnliche Transformationsreise begeben wollen? Was sind die wesentlichen ‚Lessons Learned‘ und Stolpersteine, die Sie vielleicht erwarten, aber die Sie auch bereits erlebt haben?

Ludwig Eine wesentliche ‚Lesson Learned‘, die ich mitnehme und bereits eingangs kurz geschildert habe, liegt in der alten Logik:

‚Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden‘.

Der zentrale Hebel im Kontext einer solchen Transformation ist eine umfassende, deutliche und verständliche Kommunikation. Ich bin der Meinung, dass gar nicht genug kommuniziert werden kann. Hier steht für mich insbesondere der persönliche Austausch im Vordergrund. Die Beweggründe und Motivation der Transformation sollten den Mitarbeitern erläutert und in den Sinnzusammenhang zu den Herausforderungen jedes Einzelnen gestellt werden. Im Nachhinein würde ich den besagten Dreiklang noch stärker und konsequenter umsetzen. Nichtsdestotrotz haben wir die großen Veränderungen, die nun vor uns liegen, sehr gut vorbereitet und offen kommuniziert. Zudem haben wir die Menschen zu einem Teil des Veränderungsprozesses gemacht und mittels unseres Proof of Concept Ansatzes ein hohes Involvement der Mitarbeiter erreicht, das für mich eines der großen Highlights in der Veränderung darstellt.

Herr Dr. Ludwig, vielen Dank für das Gespräch.

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