Interview mit Ina Voegele, Lufthansa Group
Die COVID-19-Pandemie stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen in Hinblick auf die Absicherung von wichtigen Personalentscheidungen. Möglicherweise bieten sich damit aber auch Chancen durch neue Ansätze für die Durchführung eignungsdiagnostischer Verfahren.
Im zweiten Teil der Interviewreihe von Kienbaum Assessment Services berichtet Ina Voegele von der Lufthansa Group, einem DAX-Konzern, der sicherlich auch in besonderem Maße von dieser Pandemie betroffen ist, von sich ergebenden Herausforderungen, ihren Erfahrungen und Strategien.
Zur Person:
Ina Voegele verantwortet das operative HR Management für Executives der Netzwerk Airlines in der LH Group; das sind LH Airlines, Austrian Airlines, Brussels Airlines und Swiss International Airlines. Zum Scope gehören alle Themen rund um Performance und Succession Management, den Lifecycle eines Executives von Recruiting, Onboarding, Development und Performance Management bis hin zu vertraglichen Fragestellungen und Offboarding. Hierbei beraten Frau Voegele und ihre Teams das Top-Management in allen relevanten Fragestellungen.
In ihrer Rolle als Process Owner ist Ina Voegele zudem global für die Themen Talent Management, Management Diagnostik und akademische Nachwuchsprogramme der Lufthansa Group zuständig. Sie leitet das Center of Excellence, welches eine systematische Vorgehensweise in der Identifizierung, Sichtbarmachung und der Entwicklung strategisch relevanter Fokusgruppen vorsieht. Dort werden Formate und Prozesse designt, um Talente in der Lufthansa Group bestmöglich zu identifizieren und zum Einsatz zu bringen. Die akademischen Nachwuchsprogramme wie StartProTeam und StartProTeamIT gewährleisten die Gewinnung der richtigen Nachwuchspotenziale für die strategischen Herausforderungen der LH Group. Zusätzlich verantwortet Ina Voegele die Management Diagnostik für alle Führungsebenen der Lufthansa Group.
Zum Unternehmen:
Die Lufthansa Group ist ein weltweit operierender Luftverkehrskonzern. Mit 138.353 Mitarbeitern erzielte die Lufthansa Group im Geschäftsjahr 2019 einen Umsatz von 36.424 Millionen EUR. Die Lufthansa Group setzt sich aus den Geschäftsfeldern Network Airlines, Eurowings sowie den Aviation Services zusammen. Zu den Aviation Services zählen die Geschäftsfelder Logistik, Technik und Catering sowie die weiteren Gesellschaften und Konzernfunktionen. Letztere umfassen unter anderem die Lufthansa AirPlus, die Lufthansa Aviation Training sowie die IT-Gesellschaften. Alle Geschäftsfelder nehmen in ihren jeweiligen Branchen eine führende Rolle ein.
Inwiefern führen Sie in Zeiten von Corona weiterhin eignungsdiagnostische Verfahren durch? Für welche Zielgruppe und mit welcher Fragestellung?
Voegele: Tatsächlich ist es so, dass wir alle Leadership-Verfahren eins zu eins auf virtuell umgestellt haben. Wir führen also weiterhin eignungsdiagnostische Verfahren durch. Es war tatsächlich gar keine Frage, ob wir sie aussetzen, sondern uns war sofort klar: Wir machen weiter. Wir haben zu Beginn mit unseren Providern, mit denen wir zusammenarbeiten, überlegt, wie wir die Verfahren möglichst gut virtuell abbilden können. Nun führen wir diese für die Ebenen des Middle- und Top-Managements durch. Anlass ist immer eine strategische Besetzungsfragestellung. Das heißt, es geht um eine offene Position, bei der wir die Fragestellung verfolgen, ob und inwiefern eine Person im Sinne einer Leveldiagnostik den Anforderungen für das nächsthöhere Management-Level entspricht.
Welche Entwicklung haben Sie bis zu Corona im Rahmen von Assessments vorangetrieben? Welche Innovationen oder technischen Veränderungen?
Voegele: Dieses technische Medium so in unseren (diagnostischen) Alltag zu integrieren war schon eine Entwicklung. Vor der Corona-Krise war das bei uns keine denkbare Option. Wir haben vor der Corona-Pandemie schon Job-Interviews über virtuelle Kanäle geführt, aber keine Assessments. Eine (erste) Innovation war dann tatsächlich, diese Fragestellung für Assessment Center zuzulassen. Dort schauen wir ja aus verschiedenen Perspektiven auf einen Menschen. Es gab Vertreter in unserer Organisation, die im Vorfeld mit dem Gedanken einer virtuellen Durchführung gefremdelt haben. Durch die Umstände der Pandemie haben wir uns nun rascher darauf eingelassen, was aus Entwicklungssicht ein willkommener Anlass war. Trotz anfänglicher Skepsis ist ein erstes Zwischenfazit für uns bisher sehr positiv. Was wir in dem Zusammenhang auch gemacht haben, war, die ein oder andere moderne Methodik mit auszuprobieren. Schon vor der Pandemie haben wir unsere Verfahren immer wieder angepasst und modernisiert, auch digitale Methodiken wurden von uns eingesetzt. Insgesamt hat das also inhaltlich gut zusammen-gepasst. Die Umstellung kam also gar nicht so überraschend, sondern geschah eigentlich parallel.
Zum Thema Innovation: Gibt es Elemente, die Sie auch unabhängig von Corona komplett neu gedacht haben?
Voegele: Ja, die gibt es. Wir haben das Thema Teamdiagnostik neu eingeführt, so dass wir neben der Fragestellung, ob ein Individuum auf eine Stelle und ein Level passt, auch auf das Team-Setup und den Team-Fit schauen. Das ist für Leadership-Fragestellungen eine große Veränderung. Zusätzlich achten wir bei unseren Weiterentwicklungen immer auf die Facette, unsere Verfahren auf eine kundenzentrierte Art und Weise durchzuführen. Dabei zählen moderne, agile Methodiken wie das Designen einer Customer Journey oder das Erstellen eines Minimum Viable Products zu den Methoden unserer Wahl. Auch das ist eine Innovation für uns.
Welche eignungsdiagnostischen Methoden und Übungen setzen Sie grundlegend in den verschiedenen virtuellen Verfahren für die unterschiedlichen Ebenen ein?
Voegele: Grundsätzlich haben wir gesagt: „Wir transferieren die bestehenden Verfahren in eine virtuelle Form“. Wir wollten und konnten nichts völlig Neues konzipieren, weil wir tatsächlich befunden haben, dass alle Elemente, die wir einsetzen, auch virtuell nutzbar sind. Und das sind für uns die klassischen Methodiken, die wir in einem Assessment Center einsetzen: Von Case Studies, Führungssimulationen – oder breiter gefasst, Gesprächssimulationen, da es sich nicht immer um eine Führungsdyade, sondern auch um eine Verhandlungssituation handeln kann – über Elemente wie Motivational Speeches – also dieses „Menschen, Mitarbeiter, Teams mitreißen“ – das klassische Interview, was immer den Kern eines solchen Verfahrens darstellt, bis hin zur Persönlichkeitsdiagnostik. Letztere lief aber auch schon vorab digital über Onlinetools.
Was stellt sich Ihrer Meinung nach als die größte Herausforderung bei der Durchführung von virtuellen Verfahren dar?
Voegele: Interessanterweise ist es so, dass ich bis jetzt den Eindruck habe, dass die Kandidaten, die die Verfahren bisher virtuell absolviert haben, sportlich damit umgehen. Wir haben natürlich noch keine Langzeitstudie, sondern nur erste Wochen an Erfahrungen; trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Teilnehmer gut damit umgehen, weil man sich jetzt schon ein bisschen daran gewöhnt hat. Tatsächlich ist es eher der ein oder andere Beobachter, der noch ein wenig mit der neuen Vorgehensweise fremdelt. Das merke ich an den Nachfragen von Einigen. Aber grundsätzlich erlebe ich eine erstaunlich hohe Offenheit, was mich sehr positiv stimmt. Wenn man tatsächlich von irgendwelchen Herausforderungen spricht, sind das bisher eher Herausforderungen technischer Natur wie die Frage: „Passt das jetzt mit der Bandbreite, ist mein WLAN stark genug?“. Oder: „Wie kann ich mich trotz meiner Homeoffice-Situation, wo manchmal ja auch Kinder oder der Hund im Hintergrund herumspringen, rausziehen?“
Wie bewerten Sie die virtuelle Durchführungsart im Vergleich zu klassischen Präsenzverfahren?
Voegele: Da wir in der Eignungsdiagnostik einen ganzheitlichen Eindruck des Menschen suchen – und damit meine ich diesen 360°-Eindruck, den man live erlebt – fehlt gewissermaßen eine Perspektive bei virtuellen Durchführungen. Insgesamt finde ich aber, dass man über die virtuelle Lösung vieles gut abbilden kann und dass die virtuelle Durchführung eine super Alternative ist. Ich bin tatsächlich positiv überrascht und durchaus überzeugt, wie gut man das machen kann, wie gut das klappt. Von daher muss ich sagen, dass mir gar nicht sehr viel fehlt.
Was sind die bisher wichtigsten Lernerfahrungen bei der Durchführung virtueller Verfahren?
Voegele: Ich glaube, besonders relevant ist es, ein gutes Briefing zu machen, um gegebenenfalls vorhandene Unsicherheit auszuräumen. Die ist zu Beginn noch bei dem Einen oder Anderen gegeben. Ein „Entfremdeln“ mittels eines Briefings ist daher wichtig, um alle Beteiligten angemessen auf die neue Vorgehensweise einzustimmen. Ansonsten ist ein wichtiges Learning, dass man schaut, dass man eben nicht in die Versuchung kommt, nebenbei noch mal schnell eine Email zu bearbeiten oder etwas anderes zu tun, weil man ja vor seinem Rechner sitzt, wo man das so gewohnt ist. Das hat man ja in einem Präsenz-AC nicht. Auch dieses „Sich-wirklich-ganz-darauf-einlassen“ ist vielleicht nochmal ein Learning. Das beinhaltet das Briefing mit unseren Kandidaten ebenfalls, weil wir, glaube ich, alle merken, dass man in der virtuellen Welt zwar sagen kann: „Ich mache mich obenherum adrett zurecht und bin im Businesszwirn, untenrum aber dann doch noch in meinen Turnschuhen“. Da spricht grundsätzlich gar nichts gegen. Das täte es nur, wenn das dazu führt, dass man sich ein wenig gehen lässt und sich nicht so in die Situation hineinbegibt, wie es angemessen wäre. Deshalb versuchen wir so etwas ein Stück weit zu antizipieren und mit zu briefen, damit dann nicht erst am Ende das Aha-Erlebnis kommt und jemand sagt „Das habe ich tatsächlich viel zu locker genommen“. Ein AC ist nach wie vor eine Art Prüfungssituation – auch virtuell.
Sie haben gesagt, Teilnehmer gehen sportlich mit der neuen virtuellen Vorgehensweise um. Haben Sie direkte Reaktionen von den Teilnehmern hinsichtlich der Durchführung virtueller Verfahren erhalten?
Voegele: Das Feedback der Teilnehmer, mit denen ich gesprochen habe, war wirklich positiv, was mich sehr gefreut hat – auch, weil ich das selbst so empfunden habe. Wenn man sich offen auf ein neues Verfahren einlässt, bedeutet das ja erstmal eine gewisse Neutralität, kombiniert mit der an-schließenden Erfahrung „Ach Mensch, das war doch tatsächlich wunderbar“. Von daher war das Feedback eine Überraschung im positiven Sinne.
Eben haben Sie von den Kindern und Haustieren gesprochen, die gegebenenfalls die Konzentration stören können. Gab es bei Ihnen kuriose Situationen, von denen Sie gehört haben oder die Sie selbst als Überraschung erlebt haben?
Voegele: Darüber haben wir auch im Team gemeinsam reflektiert. Leider habe ich da noch keine spektakulären Anekdoten auf Lager. Aus dem normalen Arbeitsleben könnte ich Spannenderes erzählen, was in der Corona-bedingten virtuellen Zeit so passiert, als aus den virtuellen AC-Verfahren. Ich glaube, das Komplizierteste und das Spannendste sind wirklich Geschichten im Zusammenhang mit technischen Problemen: Dass auf einmal das WLAN nicht so funktioniert, wie es soll, und man dann irgendwie schauen muss, wie man damit umgeht. Im Nachhinein habe ich einmal mit einem Kandidaten darüber gescherzt und gesagt: „Das haben wir extra so gemacht und als Hürde eingebaut!“ – natürlich im Spaß. Vielleicht kommen aber noch kuriose Erfahrungen dazu; dann lass ich es Sie gerne wissen.
Inwiefern planen Sie auch nach Corona die Durchführung von virtuellen Verfahren fortzusetzen?
Voegele: Wir haben dazu noch keine finale Entscheidung getroffen, weil sich die Frage ja auch noch nicht konkret gestellt hat. Ich glaube aktuell, dass die virtuellen Verfahren für uns eine tolle Ergänzung sein können. Auch wenn wir bisher so vorgegangen sind, dass wir gerade als personenzentriertes Business Kandidaten vor Einstellung bei uns im Headquarter persönlich getroffen haben. Für internationale Positionen kann ich es mir wirklich sehr gut vorstellen, virtuell zu arbeiten. Damit sparen wir auch an Reiseaufwand, aber vor allem an Zeit. Reisen ist als unser Kerngeschäft ein sehr gutes Invest, der Zeitaufwand drum herum, der durch Zeitverschiebungen gegebenenfalls noch größer wird, aber enorm. Mit virtuellen Verfahren kann man Dinge hier in einem gewissen Rahmen halten. Am Ende sind wir aber ein Dienstleistungsunternehmen, da spielen die Personality und die persönliche Komponente einfach eine so große Rolle, dass ich glaube, dass es bei uns immer einen echten Wert haben wird, sich persönlich zu sehen. Deshalb würde ich vermuten, wir bleiben als Standard zunächst bei den Präsenz-ACs und greifen ergänzend und bei Bedarf als Alternative auf die virtuelle Durchführung zurück.
Das Interview führte Annette Labode, Kienbaum Assessment Services
Annette Labode | E-Mail: annette.labode@kienbaum.de | Tel.: +49 211 96 59-350
Kienbaum Assessment Services unterstützt Unternehmen in der weltweiten Entwicklung, Implementierung und Durchführung von Assessment Lösungen; von Talent Development Programmen bis zur Besetzung von Vorstandsmandaten. Auch virtuell.