Umfrageergebnisse

Tarifverträge am Wendepunkt – Zeit für ein neues Gleichgewicht

Tarifverträge sind seit Jahrzehnten ein Stabilitätsanker der deutschen Arbeitswelt. Doch in jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die fragen: Passen die bestehenden Regelwerke noch zu den Realitäten einer sich rasant wandelnden Arbeits- und Wirtschaftswelt? Um hier für mehr Klarheit zu sorgen, hat Kienbaum im Frühjahr dieses Jahres eine umfassende Umfrage unter 146 Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größen durchgeführt. Wir haben die zentralen Ergebnisse zusammengefasst.

Ein „Weiter so“ ist keine Option

Für viele Unternehmen sind Tarifverträge immer noch im Grundsatz Ausdruck der im deutschen Modell verankerten Sozialpartnerschaft und damit einhergehend ein Vorteilsmix aus Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsfähigkeit und Arbeitgeberattraktivität. Die Zweifel an einem Fortbestand dieses „Vorteilsmixes“ bzw. der Zukunftsfähigkeit von Tarifverträgen in ihrer bisherigen Form sind jedoch unüberhörbar.

Lediglich der abgefragte Aspekt zur Arbeitgeberattraktivität wird überwiegend positiv gesehen. Hinsichtlich der Beiträge zur Wettbewerbsfähigkeit, Stabilität und Innovation überwiegen dagegen zweifelnde und ablehnende Ansichten. Das Wohlstandsmodell, bei dem tarifvertragliche Errungenschaften der Arbeitszeitverkürzung und Entgeltanstiege durch höhere Produktivitätszuwächse ausgeglichen wurden, trägt für viele nicht mehr.

Tarifvertragliche Errungenschaften werden vielfach eher als Wettbewerbsnachteil denn als -vorteil empfunden.

So koppeln sich die Tarifentwicklungen in der überwiegenden Wahrnehmung der hier Befragten von der wirtschaftlichen Realität der Unternehmen ab. Tarifvertragliche Errungenschaften werden vielfach eher als Wettbewerbsnachteil denn als -vorteil empfunden. Unternehmen suchen daher nach günstigeren Standortbedingungen – nicht selten durch Verlagerung oder Abbau hiesiger Aktivitäten.

Tätigkeitsbewertung – in ihrer jetzigen Form oftmals nicht mehr zeitgemäß

Eine zentrale Erkenntnis betrifft die Eingruppierung von Tätigkeiten: Über die Hälfte der Befragten ist mit den tariflichen Regelungen zur Stellenbewertung unzufrieden. Berufsbilder sind veraltet, Bewertungskriterien oft unklar oder an der Realität vorbei. Noch heute orientieren sich viele Tarifverträge stark an formalen Qualifikationen – ein Modell, das nicht nur in agilen, projektbezogenen Arbeitsumfeldern zunehmend an Aussagekraft verliert. Kriterien wie Verantwortung, Komplexität und strategische Relevanz werden als fairer und praktikabler bewertet.

Entgelt – attraktiv, aber unbeweglich

Tarifliche Entgelte gelten für die Arbeitnehmenden gemeinhin als attraktiv. Für die Unternehmen stellen sie hingegen in Zeiten extremer wirtschaftlicher Herausforderungen oft einen starren Kostenblock dar. Die Umfrageteilnehmenden kritisieren insbesondere die eingeschränkte Flexibilität tariflicher Vergütungssysteme: Während die Fortentwicklung des Arbeitsentgelts die Regel ist, fehlen Optionen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten temporär wirksame Anpassungen vornehmen zu können und gegebenenfalls auch Entgelte nach unten hin anpassen zu können.

Auch die fehlenden bzw. zumeist zu gering ausgeprägten Möglichkeiten, Leistungsunterschiede unter den Mitarbeitenden durch flexible tarifliche Regelungen differenzierter zu vergüten, werden als problematisch erachtet. Die insoweit zu starren tariflichen Regelungen verhindern eine wirksame Steuerungsfunktion der Vergütung und erschweren eine optimale Mittelallokation.

Arbeitszeit – Wunsch nach Flexibilität

Die tariflichen Arbeitszeitregelungen werden derzeit mehrheitlich als funktional angesehen – allerdings eher im Sinne eines pragmatischen Arrangements. Die wachsenden Anforderungen an Flexibilität sowie eine immer stärkere Lebensphasenorientierung machen deutlich: Die Zeit starrer Wochenarbeitszeiten und unflexibler Modelle läuft ab: Über 60 % der Befragten sehen insoweit Änderungsbedarf. Zudem kritisieren die Befragten, dass die bestehenden Arbeitszeitregelungen primär im Kontext mit der klassischen Arbeitsweise an einem festen Ort funktionieren. Den heutzutage gängigen digitalen und mobilen Arbeitsformaten und den damit einhergehenden Anforderungen werden sie jedoch nicht gerecht.

Arbeitsort – hybrides Arbeiten als neuer Standard

Homeoffice und hybride Arbeitsformen sind heutzutage Standard, trotz zum Teil entgegenlautender Meldungen über einen generellen Trend „zurück ins Büro“. 95 % der Befragten sehen hybrides Arbeiten als zentrale Arbeitsform an – gegenwärtig wie in Zukunft. Ein Großteil der Unternehmen spricht sich jedoch gegen eine verbindliche tarifliche Regelung aus und favorisiert individuelle, betriebliche Lösungen.

Gleichwohl ist knapp ein Drittel der Teilnehmenden unzufrieden mit den bestehenden tariflichen Regelungen zum Thema Arbeitsort und für immerhin 37 % wäre eine tarifliche Regelung zu flexiblen Arbeitsorten wie Homeoffice und Co-Working-Spaces wichtig. Möglicherweise ist dies auch Ausdruck des Wunsches nach klareren Regelungen zur Anzahl an Home-Office Tagen bzw. zur Anwesenheit im Betrieb und damit einhergehenden Öffnungsklauseln

Benefits – mehr als nur ein Zusatz

Benefits wie zusätzliche Urlaubstage, betriebliche Altersvorsorge oder Gesundheitsangebote gewinnen massiv an Bedeutung. Zwar will die Mehrheit der Teilnehmenden keine stärkeren tariflichen Vorgaben hinsichtlich konkreter Benefits. Es besteht aber der ausgeprägte Wunsch, Tariferhöhungen zumindest teilweise auch durch Umwandlung in Benefits umsetzen zu können.

Zeit für eine Modernisierung der Tarifpolitik

Tarifverträge in Zeiten des Wandels CoverDie Untersuchung zeigt, dass Tarifverträge in ihrer gegenwärtigen Form zunehmend als Wettbewerbsnachteil wahrgenommen werden, da sie sich von der wirtschaftlichen Realität vieler Unternehmen entfernt haben. Dies gilt insbesondere für die mangelnde Flexibilität bei den Entgeltregelungen sowie – auch vor dem Hintergrund der EU-Entgelttransparenzrichtlinie – oft nicht mehr zeitgemäßen Eingruppierungskriterien. Ein „Weiter so“ ist daher keine Option. Es bedarf vielmehr mutiger und konstruktiver Modifizierungen der bestehenden Tarifwerke durch die Tarifparteien.


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