Interview mit Thomas Schmidt, ARAG SE

Interview mit Thomas Schmidt, ARAG SE

Eignungsdiagnostische Verfahren als Career Quality Gates sind in vielen Unternehmen etabliert und sichern auch im Rahmen der COVID-19-Pandemie wichtige Personalentscheidungen ab.

In unserer Interviewreihe gibt Thomas Schmidt von der ARAG SE Einblicke in den Umgang mit der Umstellung von eignungsdiagnostischen Regelprozessen in einer Zeit ohne persönlichen Kontakt.

Zur Person:
Thomas Schmidt

Thomas Schmidt – Abteilungsdirektor Personalentwicklung (ARAG SE)

Thomas Schmidt ist Diplom-Psychologe mit den Schwerpunkten Arbeit und Organisation, Persönlichkeitspsychologie und Gesundheitsmanagement. Er arbeitet seit 1998 im ARAG Konzern und leitet seit 2004 die Konzern-Personalentwicklung der ARAG. Seine besonderen Themenschwerpunkte sind Talentmanagement und Diagnostik, Lernen und Development sowie Gesundheitsmanagement.

Zum Unternehmen:

Die ARAG ist das größte Familienunternehmen in der deutschen Assekuranz und versteht sich als vielseitiger Qualitätsversicherer. Neben ihrem Schwerpunkt im Rechtsschutzgeschäft bietet sie ihren Kunden in Deutschland auch eigene einzigartige, bedarfsorientierte Produkte und Services in den Bereichen Komposit und Gesundheit. Aktiv in insgesamt 19 Ländern – inklusive den USA, Kanada und Australien – nimmt die ARAG zudem über ihre internationalen Niederlassungen, Gesellschaften und Beteiligungen in vielen internationalen Märkten mit ihren Rechtsschutzversicherungen und Rechtsdienstleistungen eine führende Position ein. Mit mehr als 4.300 Mitarbeitern erwirtschaftet der Konzern ein Umsatz- und Beitragsvolumen von rund 1,8 Milliarden Euro.

Inwiefern führen Sie in Zeiten von Corona weiterhin eignungsdiagnostische Verfahren durch?

Schmidt: Ende März haben wir Corona-bedingt innerhalb weniger Tage konsequent all unsere Verfahren von Präsenzveranstaltungen auf Onlineverfahren umgestellt. Das betrifft alle Funktionsebenen, vom Teamleiter bis zum Topmanager, von Führungs- über Spezialistenlaufbahnen, und interne KandidatInnen genau wie externe BewerberInnen. Durch diese schnelle Entscheidung konnten wir sämtliche diagnostischen Verfahren realisieren und haben so keinerlei Verzug bei der Besetzung von freien Stellen und der Entwicklung von MitarbeiterInnen. Das heißt in Summe: Wir führen weiterhin unsere kompletten eignungsdiagnostischen Verfahren durch, aber online.

Welche Entwicklung haben Sie bis zu Corona im Rahmen von Assessments vorangetrieben, welche Innovationen oder technischen Veränderungen forciert?

Schmidt: Wir haben im letzten Jahr – also 2019 – sämtliche unserer Auswahlverfahren auf den Prüfstand gestellt, da wir zwar bewährte, aber nicht mehr moderne Verfahren nutzten, und im Herbst 2019 unsere Assessment Center in gänzlich neuer Form aufgelegt. Die Verfahren selbst wurden von uns sowohl hinsichtlich der Anforderungen als auch der Aufgabenstellungen komplett modernisiert. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, zeigt sich, dass daraus hybride Verfahren entstanden sind: Wir nutzen Onlinetests und Präsenzelemente wie Interviews und Simulationen gleichermaßen. Wenn man über die üblichen Aufgaben und Fragestellungen hinaus schaut, ist eine zusätzliche wesentliche Änderung die stärkere Betrachtung von zukunftsrelevanten Potenzialdimensionen. Das war uns wichtig: nicht nur den Status quo anzuschauen, sondern schon einen ersten Schritt nach vorne zu gehen und zu schauen, welche Anforderungen zukünftig gebraucht werden. Außerdem werden strategische Kompetenzen bereits auf unteren Funktionsebenen – beispielsweise der von Teamleitern und Fachreferenten – bei der ARAG stärker fokussiert. Zudem haben wir in diesem Zuge auch alle internen Prozesse im Sinne einer maximalen Kundenorientierung angepasst und über diesen Weg radikal verschlankt.

Welche eignungsdiagnostischen Methoden und Übungen setzen Sie im virtuellen Verfahren ein?

Schmidt: Wir setzen in virtuellen Verfahren – natürlich in veränderter Form – ähnliche Methoden wie auch in unseren Präsenzverfahren ein. Das sind mit dem Hogan Test und dem CUT-E zum einen virtuelle, anerkannte psychometrische Testverfahren, die bei uns vor dem virtuellen Assessment Center bearbeitet werden. Am Tag selbst nutzen wir dann Microsoft Teams und Blackberry Workspaces als zentrale Kommunikationsmittel und setzen dort als wesentliche Präsenzelemente Interviews, Simulationen und Case Studies ein.

Inwiefern haben Sie Anpassungen bei Ihren Auswahl- und Bewertungsprozessen vorgenommen?

Schmidt: Das ist eine gute Frage, die uns auch im Vorfeld sehr bewegt hat, weil wir natürlich auch wussten, dass Präsenzverfahren und virtuelle Verfahren ähnlich, aber dennoch unterschiedlich sind. So haben wir dann vor der Realisation des ersten Verfahrens im März jeden einzelnen Baustein der bestehenden Assessment Center geprüft und dann auch an die besonderen Anforderungen der Onlinedurchführung angepasst. Das bedeutete Veränderungen von der inhaltlichen Natur bis hin zum zeitlichen Ablauf. Wir haben uns also Aufgabenstellungen noch einmal dahingehend angeschaut, dass sie auch in digitaler Form durchgeführt werden können – und in der Folge zum Teil „abgespeckt“. In dem Zusammenhang war es uns auch wichtig, in Vorgesprächen mit all unseren TeilnehmerInnen die Besonderheiten von Onlineverfahren zu besprechen und diesen frühzeitig Zugriff auf die technischen Plattformen zu ermöglichen, damit sie sich mit diesen vertraut machen können. Wir haben also sowohl inhaltliche wie auch organisationale Veränderungen durchgeführt, die ich als notwendig und wichtig erachte, um erfolgreiche Online-Assessments durchzuführen.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen bei der Durchführung virtueller Verfahren?

Schmidt: Erstaunlicherweise findet sich die größte Herausforderung nicht auf der menschlichen Seite; wir haben relativ schnell hohe Akzeptanz für die Verfahren festgestellt. Das wirklich Wichtige bei der Durchführung von Onlineverfahren ist es, gute technische Rahmenbedingungen mit einer entsprechenden Software und einer stabilen Netzwerkverbindung zu schaffen. Das klingt banal, ist aber eine ganz wesentliche Rahmenbedingung. Genauso wichtig ist es, dass wir für alle Beteiligten, also Führungskräfte und KandidatInnen, die bei uns im Verfahren anwesend sind, Transparenz über die veränderten Rahmenbedingungen und auch über den Ablauf des Tages schaffen, sodass alle Beteiligten eine ganz klare Sicherheit darüber haben, was auf sie zukommt, und sich gut auf die Durchführung vorbereiten können. Außerdem benötigen die TeilnehmerInnen ein ruhiges räumliches Umfeld, was im Home-Office ja nicht immer gegeben ist. Gerade in dieser Situation prüfen wir mit den KandidatInnen im Vorfeld sehr genau, wie sie das am besten für sich gestalten können.

Wie bewerten Sie diese Durchführungsart im Vergleich zu klassischen Präsenzverfahren?

Schmidt: Spannende Frage. Natürlich sehe ich auch die Vorteile klassischer Verfahren, bei denen man sich persönlich gegenüber sitzt – die sind überhaupt nicht von der Hand zu weisen, und ich glaube, dass das persönliche Gespräch face-to-face im gleichen Raum auch in Zukunft wichtig sein wird. In der Anwendung haben Onlineverfahren allerdings den Vorteil, sehr flexibel einsetzbar zu sein, und das nicht nur in der Corona-Krise, sondern auch darüber hinaus. Gerade in internationalen Unternehmen wie der ARAG, die an einer Vielzahl von Standorten operiert, sind digitale Verfahren mit Sicherheit zukünftig eine Alternative, um Reisezeit und Reiseaufwände sowohl aus ökonomischen als auch aus ökologischen Gründen gering zu halten. Das Gleiche gilt sicher auch für die Auswahl externer Bewerber, bei denen wir ebenfalls wahrnehmen, dass die Bereitschaft, einen halben Tag für ein Unternehmen zu reisen, sinkt und entsprechend die Offenheit für solche Verfahren deutlich gewachsen ist. Zum Teil werden diese sogar eingefordert.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Learnings für Sie bei der Durchführung?

Schmidt: Wir waren schon kritisch, wir haben alles genau geprüft und eines ist für mich sicher: Die Durchführungsart schafft valide und wertvolle Ergebnisse für die Auswahl und Entwicklung von MitarbeiterInnen. Mit diagnostischen Verfahren über Onlinemedien haben wir eine weitere Möglichkeit, Auswahl und Entwicklungsprozesse mithilfe moderner Technik zu realisieren. Ich sehe sie gar nicht so sehr als Konkurrenz zu bestehenden Präsenzverfahren, sondern immer als sinnvolle Ergänzung, die ich dann einsetze, wenn ein direkter persönlicher Kontakt aufgrund schneller Reaktionszeiten oder weiter Wege zu aufwendig ist und wir schnell und direkt Kontakt zu Mitarbeitern und  Bewerbern haben wollen. Dann ist diese Art der Durchführung sehr hilfreich und sehr wertvoll.

Wie ist die Reaktion der Teilnehmer hinsichtlich der Durchführung virtueller Verfahren?

Schmidt: Es gibt von allen Seiten in der Tat – das klingt jetzt fast schon wie Werbung – fast nur positive Reaktionen, sowohl von den Teilnehmern, als auch von Management, Mitbestimmungsgremien und Betriebsräten, die dem Verfahren natürlich auch zustimmen müssen und das dann auch für sich sehr kritisch geprüft haben. Wir haben jetzt die ersten Verfahren durchgeführt. Die Resonanz ist sehr positiv. Es gab nur ganz wenige Ausnahmen, wo wir insbesondere Führungskräfte im Vorfeld der Verfahren davon überzeugen mussten, dass wir mit diesem Verfahren beinah identische Ergebnisse wie im Präsenzverfahren erzielen können. Der Tag selbst wird durchgängig als anspruchsvoll und anstrengend beschrieben; das ist aber auch vergleichbar mit dem Präsenztag. Was ich für die Beteiligten jedoch stärker im Vordergrund sehe und was wir mit den virtuellen Verfahren erreicht haben, ist, dass so wichtige HR-Funktionen wie Auswahl, Einstellung, Entwicklung und Karriere trotz Corona-Krise nicht still stehen. Das ist eigentlich der große Mehrwert: Dass wir damit auch jetzt ein wichtiges positives Signal ins Unternehmen senden konnten.

Gibt es kuriose Situationen oder Überraschungen, von denen Sie gehört haben oder die Sie selbst erlebt haben?

Schmidt: Die ARAG arbeitet ja jetzt seit einigen Wochen fast zu 100% im Homeoffice. Da bleibt auch nicht aus, dass wir auch mal kuriose Dinge erleben. Es ist schon normal, dass die Internetverbindung nicht immer optimal läuft, oder wir auch mal Familienmitglieder im Bild sehen oder die Kinder von Angestellten neben dem PC stehen und fragen: „Wer ist der fremde Mann da?“ Das sind in der Tat aber Dinge – und das klingt jetzt langweilig – die in den Auswahlverfahren nicht wirklich passieren. Die sind für alle Beteiligten so wichtig, dass alle daran interessiert sind, dass dieser Tag ohne Störung  abläuft, sodass das Schlimmste, was uns mal passiert ist, der kurzfristige Abbruch von Internetverbindungen war. Das war aber auch so die größte Herausforderung, die wir uns an dieser Stelle stellen mussten.

Inwiefern planen Sie, auch nach Corona auf die Durchführung virtueller Verfahren zurückzugreifen?

Schmidt: In der momentanen Situation ist es trotz der aktuellen Lockerungen so, dass wir alle Verfahren in 2020 bis auf weiteres als Onlineverfahren planen. Wir haben da noch keine abschließende Entscheidung getroffen. Wir werden aber zu gegebener Zeit prüfen, für welche Situationen und Zielgruppen Onlineverfahren die bessere Wahl sind. Wenn Sie mich persönlich fragen, sehe ich zukünftig die Anwendung besonders dort geeignet, wo Sie eine größere räumliche Distanz haben, aber schnell personelle Entscheidungen treffen müssen. Dementsprechend werden wir – das ist meine Einschätzung – unser diagnostisches Portfolio an der Stelle zukünftig um Onlineverfahren ergänzen, Präsenzverfahren aber nicht pauschal ersetzen.

Das Interview führte Hans Ochmann, Kienbaum Assessment Services

Hans Ochmann | E-Mail: hans.ochmann@kienbaum.com | Tel.: +49 221 801 72-750

Kienbaum Assessment Services unterstützt Unternehmen in der weltweiten Entwicklung, Implementierung und Durchführung von Assessment Lösungen; von Talent Development Programmen bis zur Besetzung von Vorstandsmandaten. Auch virtuell.

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