Struktur- und Strategiewandel für gute Medizin

Struktur- und Strategiewandel für gute Medizin

Die VUKA-Welt hält auch im deutschen Gesundheitswesen Einzug und bringt stetig neue Herausforderungen mit sich. In seiner neuen Interviewserie spricht Dr. med. Florian Wenzel-Hazelzet mit Vorständen von Universitätskliniken und Klinikverbünden, Geschäftsführer:innen und Persönlichkeiten aus der Gesundheitswirtschaft darüber, wie sie diesen Herausforderungen aktuell und in der zukünftigen, neuen Arbeitswelt entgegentreten.

Dr. Martin Siess, seit 2010 Vorstand Krankenversorgung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), hat er gefragt, welche Fähigkeiten und Kompetenzen es braucht, in einem (politisch) hoch regulierten Markt ein so komplexes Unternehmen wie ein Universitätsklinikum strategisch zu entwickeln und welche künftigen Herausforderungen er für die Zeit nach COVID-19 sieht. In seinen elf Jahren als Universitätsklinikums-Vorstand hat sich die UMG auf den Weg zu einer grundlegenden Transformation gemacht, vor allem in personeller und baulich-infrastruktureller Hinsicht sowie im Hinblick auf den Bereich IT/ Digitalisierung: Eine neue Generation von Klinikdirektoren und -ordinarien, die Bereitstellung von über einer Milliarde Euro an Fördermitteln für einen Ersatz-Neubau durch das Land Niedersachsen und eine stringente Digitalisierungsstrategie bereits fast vier Jahre vor dem KHZG sind die Schlaglichter dieser Phase. Aber welches Selbstverständnis war die Basis dieser Erfolge und welche Herausforderungen werden sich in der Zeit nach CoV-SARS-2 für die stationäre Gesundheitsversorgung noch schärfer als in der Vergangenheit herauskristallisieren?

 

Lieber Martin, du hast einen etwas untypischen Lebenslauf für einen Ärztlichen Direktor einer Universitätsklinik. Kannst du deinen Werdegang einmal pointiert für uns zusammenfassen?

 

Dr. Martin Siess

Dr. Martin Siess, Vorstand Krankenversorgung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG)

Dr. med. Martin Siess: Lieber Florian, das ist eigentlich relativ einfach: durch meine berufliche Vita zieht sich der Wunsch, die Patientenversorgung zu verbessern. Nicht über die extrem wichtige eins-zu-eins-Beziehung des kurativ tätigen Arztes, sondern durch eine Veränderung der Strukturen in der Medizin – ich will Medizinern die Rahmenbedingungen geben, die sie brauchen, um gute Medizin zu machen. Dieser Wunsch entstand am Ende meines Studiums, Mitte der Neunzigerjahre, mit der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips und der Einführung der Fallpauschalen und Sonderentgelte. Nach meinem Studium habe ich in München den Facharzt der Allgemeinmedizin gemacht. Meine Dissertation befasste sich mit dem Thema der Bedeutung und Rolle von leitenden Ärzten im Management und deren Auswirkungen auf Medizin und Klinikstrukturen. Hierdurch wurde ich von Hr. Professor Siewert, dem damaligen Ärztlichen Direktor des Klinikums rechts der Isar als Vorstandsreferent rekrutiert und war dort bis 2005. Von 2005 bis Ende 2009 war ich für Booz & Co. als Berater, zuletzt als Prinzipal im Health Care Bereich international tätig. Anfang 2010 habe ich dann die Position des Vorstands Krankenversorgung in der UMG übernommen. Hier bin, oder besser gesagt, werde ich elf Jahre gewesen sein.

 

Das musst du nun genauer erklären.

 

Dr. med. Martin Siess: Ab Mitte 2021 werde ich als hauptamtlicher Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender für das Klinikum rechts der Isar die Verantwortung übernehmen.

 

Meine Gratulation! Aber nun noch zum Hier und Jetzt: Was zählst du zu deinen größten Erfolgen in den vergangenen elf Jahren?

 

Dr. med. Martin Siess: Es gibt da weniger ein einzelnes Event. Der Erfolg liegt in der langjährigen gemeinsamen Vorstandsarbeit mit meinen Kollegen. Die Geschlossenheit ist unsere Stärke gewesen. Ich muss nicht im Mittelpunkt stehen. Ich sage immer: Man ist nur so gut wie die besten fünf Leute um einen herum. Wenn ich aber unsere Erfolge konkretisieren müsste, stünde an erster Stelle der erfolgreiche Generationswechsel bei den Klinikleitungen über diese Dekade hinweg. Der damit einhergehende Innovationsschub einer neuen Generation von Führungskräften ist die Basis aller Erfolge – sowohl in Forschung und Lehre, als auch mit Blick auf eine exzellente Krankenversorgung. Auch haben wir auf der Grundlage eines umfassenden Strategieprozesses und in einem engen Zusammenwirken mit der Landesregierung Niedersachsen erreichen können, dass ein Sondervermögen von über einer Milliarde Euro zur Infrastrukturerneuerung der UMG zugesagt und bereitgestellt wurde. Eine Besonderheit ist, dass die Bereitstellung und das Controlling der Finanzmittel für den Neubau nach privatwirtschaftlichen Prinzipien und in ebensolchen Strukturen erfolgen.

 

Wenn ich das einmal zusammenfasse, dann definierst du eine stringente HR-/People-Strategie als Basis der Transformation. Was sind dabei deine Leitwerte, deine internen Leitplanken?

 

Dr. med. Martin Siess: Es gibt einige Kollegen hier, die mich als „Menschenfänger“ bezeichnen (lacht). Ich frage mich immer, für was Menschen brennen, was sinnstiftend ist und welche Perspektiven die UMG oder ich ihnen bieten kann. Die Passung aus der Kultur, der Position und den individuellen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt meines Handelns. Ich betrachte meine Rolle in vielen Situationen als die eines Coaches. Aber natürlich muss man als Vorstand zunächst einmal groß denken und ambitionierte Ziele definieren.

 

Die seit Jahren in vielen Branchen beschworene VUKA-Welt ist spätestens mit Corona auch im deutschen Gesundheitswesen angekommen. Was hat dich 2020 beeindruckt, was hat sich geändert und welche Gefahren oder Herausforderungen siehst du für die Zukunft noch klarer?

 

Dr. med. Martin Siess: Im Moment wird viel darüber geredet, dass besonders belastete Berufsgruppen – allen voran die Pflege – vor der großen Gefahr des „Ausgebrannt Seins“ und der Aufgabe ihrer derzeitigen beruflichen Tätigkeit stehen. Viele Kolleginnen und Kollegen beklagen, dass sie im letzten Jahr außer unterstützende Worte wenig von der Politik gesehen haben; nur ein Teil von ihnen erhält als Einmaleffekt eine Prämie. Dabei haben sie neben der Last der Versorgung der COVID-19 Patienten und der organisatorischen Veränderungen auch das ganz persönliche Risiko einer Infektion im klinischen Alltag getragen. In der UMG haben im letzten Jahr alle Mitarbeiter*innen das notwendige Krisenmanagement hervorragend unterstützt: Kinderärtze*innen oder die Mitarbeiter*innen aus der Pflege der Kinderorthopädie arbeiteten beispielsweise auf der COVID-Normalstation, Psychiater*innen waren auf der COVID-Intensivstation zusammen mit Anästhesisten und Internisten tätig. Das Ausmaß an Unterstützung war außergewöhnlich groß und außerhalb von Krisenzeiten vorher eigentlich kaum vorstellbar. Jeder hat sich freiwillig eingebracht und dort gearbeitet, wo er gebraucht wird oder er hilfreich ist. Aber dieses permanente Krisenmanagement bedeutet dann doch eine protrahierte Zeit der Überbelastung. Die Gefahr besteht, das post Corona viele Mitarbeiter*innen der Pflege den Rücken zukehren. Dies kann den Fachkräftemangel in der Pflege weiter verschärfen.

Emotional belastend war zu Jahresbeginn für viele Mitarbeiter*innen auch der Mangel an Impfstoff: Es ist für die Mitarbeiter*innen nur schwer vermittelbar, wenn Impfstoff grundsätzlich verfügbar ist, aber nicht in den Kliniken bei denjenigen ankommt, die täglich COVID-19 Patienten versorgen und sich durch die Impfung vor einer Ansteckung oder Erkrankung schützen wollen. Vor dem Hintergrund der permanenten Überarbeitung in einer seit einem Jahr andauernden Ausnahmesituation in den Kliniken und der permanenten Selbstgefährdung sehe ich die Gefahr, dass einige besonders belastete, klinische Bereiche in ein organisatorisches Burn-out-Syndrom kommen können.

 

Bitte erläutere doch einmal genauer, was du damit meinst.

 

Dr. med. Martin Siess: Ich meine damit den Verlust der  Fähigkeit einer Organisation, im Krisenmodus weiterhin pragmatisch die notwendige Flexibilität und Bereitschaft sich über die Maßen zu engagieren aufzubringen. Wir versuchen diesem potenziellen Verlust von Flexibilität und Agilität durch die Stärkung der Resilienz der Einrichtung und handelnden Personen entgegen zu wirken. Trotzdem bereitet mir dieser Umstand Sorgen.

 

Das „Buzzword“ in der Healthcare-Beratung ist derzeit „KHZG“ (Krankenhaus Zukunftsgesetz): Die Bundesregierung will über vier Milliarden Euro in die Digitalisierung und Patientensicherheit von Krankenhäusern investieren. Das kam in deinen Ausführungen bisher noch gar nicht vor. Warum?

 

Dr. med. Martin Siess: Die Universitätsmedizin Göttingen hat sich schon vor Jahren im Rahmen der bereits erwähnten infrastrukturellen Erneuerung auf den Weg einer Strategie gegeben, welche auch eine konsequente Digitalisierung beinhaltet. Das Land hat uns vor ein paar Jahren rund 23 Millionen Euro zur Einführung eines UMG-weiten klinischen Informationssystems zur Verfügung gestellt. Damit können wir an das klinische Informationssystem zum Beispiel auch eine digitale Pathologie inklusive der Möglichkeit der KI-Nutzung aus einem Forschungsprojekt anschließen, oder ein digitales Arzneimittelmanagement realisieren. Wir haben uns somit schon vor fast vier Jahren konsequent auf den Weg der Digitalisierung begeben. Aber natürlich werden wir auch die Initiative der Bundesregierung nutzen um noch bestehende Lücken schließen zu können. Wir haben daher die im Rahmen des KHZGs möglichen Mittel entsprechend beantragt. Wir wollen unter anderem gezielt in die IT-/Patientensicherheit und in den Aufbau eines Patientenportals investieren.

 

Und wie bildet ihr dies in der Organisation ab? Geht ihr – wie die Charité – den Weg eines CIO/CMIO im Vorstand?

 

Dr. med. Martin Siess: Wir haben in Göttingen einen starken CIO für den gesamten Campus, der sehr intensiv auch in der Universitätsmedizin engagiert ist und der direkt an den Gesamtvorstand angebunden ist. Nur wenn die notwendige Prozesssicht auf der obersten Führungsebene existiert, können die angestrebten Entwicklungen durch Technologien unterstützt werden.

 

Lieber Martin, ich danke dir herzlich für das Gespräch und ich wünsche der UMG und dir persönlich für deine neuen Aufgaben in München weiterhin viel Erfolg!

 

Haben Sie Fragen? Sprechen Sie uns an!

Dr. Florian Wenzel-Hazelzet | E-Mail: Florian.Wenzel-Hazelzet@kienbaum.de | Tel.: +49 221 801 72-449

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