Wirtschaftsethik

„Führungskräfte kommen wegen Dissonanzen zu uns“

Was bedeutet Firmenkultur genau? Wie sollten Werte definiert und gelebt werden? Lorenz Ottilinger leitet die berufsbegleitende Weiterbildung Wirtschaftsethik an der Thales-Akademie. Im Interview entstaubt er einige Mythen und erklärt, wo Ethik in Unternehmen meistens verloren geht.

Lorenz OttilingerIn deinen Kursen berichten auch Führungskräfte sehr offen. Wo sehen Sie sich häufig in moralischen Konflikten?

Oft ist es zunächst ein diffuses Gefühl, ein Unbehagen, welches sie zur Teilnahme an der Weiterbildung bewegt. Etwas fühlt sich nicht richtig an: Zum Beispiel, wenn ein Unternehmen nach außen vorgibt, für bestimmte Werte einzustehen – und diese dann intern nicht gelebt oder gar torpediert werden. Führungskräfte kommen einerseits wegen dieser Dissonanzen zu uns oder auch, weil sie grundsätzliche Fragen stellen: Ist meine Arbeit sinnvoll, für welche Werte stehe ich ein und wie gelingt es mir, diese Haltung auch zu leben?

Was kann man in den Seminaren der Weiterbildung lernen?

Lernen heißt im philosophischen Sinne: Aufklärung zu betreiben, also zunächst die Umstände kritisch zu betrachten und zu reflektieren. In diesem Sinne folgt die Weiterbildung keiner klaren Output-Orientierung. Vielmehr betrachten wir auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene, welche gängigen Paradigmen unsere Vorstellung von Wirtschaft, Ethik, Natur und Arbeit prägen und inwiefern diese kulturell bedingt und somit auch veränderbar sind.

Die vielfältigen Perspektiven unserer Dozierenden helfen dabei genauso, das eigenständige Denken zu schärfen und eine klare Haltung zu entwickeln, wie auch der wertschätzende Erfahrungsaustausch unserer Teilnehmenden über Berufs-, Hierarchie-, und Altersgrenzen hinweg.

Über Ethik wird im Unternehmenskontext schon länger gesprochen. Würdest du der These zustimmen, dass wir die Ebene der Sonntagsreden mehr und mehr verlassen und ehrlicher werden?

Ja unbedingt, das geschieht aber schon zwangsweise durch die steigenden Ansprüche von Kunden und Mitarbeitern und zunehmend auch von Investoren. Green-, Red- und Whitewashing fällt früher oder später auf, führt zu Unglaubwürdigkeit und verlorenem Vertrauen. Zukünftige Mitarbeiter fordern bei der Bewerbung heute zunehmend einen Probetag, um die Kultur zu spüren, die im Unternehmen herrscht.

Gerade das Wort „Kultur“ wird ja ziemlich häufig verwendet. Wenn etwas schief lief, war meistens die „Firmenkultur“ schuld. Was ist damit aus wirtschaftsethischer Sicht gemeint?

Kultur ist zunächst einmal etwas, das man nicht einfach beginnen, beenden oder für bestimmte Unternehmenszwecke nutzbar machen kann. Differenzieren können wir jedoch, in dem wir uns die Kultur eines Unternehmens unter bestimmten Aspekten anschauen. Da gibt es die strategisch-funktionale Dimension, welche sich beispielsweise in der Verständigung über ein gemeinsames Ziel, eine Vision ausdrückt. Um eine gemeinsame Zielvorstellung jedoch auch umsetzen zu können, benötigt es Regeln. Die Verbindlichkeit und gegenseitige Erwartungshaltung, welche durch Regeln entsteht, lässt sich als normative Dimension der Kultur beschreiben.

Gibt es weitere Formen von Firmenkultur?

Angenommen, wir lernen ein Unternehmen neu kennen, nehmen an Meetings teil und bewegen uns durch die Räumlichkeiten, so würden wir die Kultur als offen, freundlich, kühl, kompetitiv oder vielleicht sogar bedrückend beschreiben. Was sich durch Sprache, Kleidung oder gar Architektur ausdrückt, kann man unter dem Begriff der atmosphärischen Dimension von Kultur zusammenfassen.

Wie würdest du Wirtschaftsethik definieren?

Die Wirtschaftsethik nimmt Verantwortungs- und Gerechtigkeitskonflikte in den Blick, die mich entweder persönlich als Konsument, als Mitarbeiter oder Geschäftsführer in einem Unternehmen oder als Bürger in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft betreffen. Ein wirtschaftsethischer Konflikt liegt immer dort vor, wo ökonomische mit sozialen und ökologischen Anliegen kollidieren.

Wo liegt der Unterschied zur juristischen Sichtweise?

In Abgrenzung zur Regulatorik von Gesetzen unterliegt die Verständigung auf bestimmte Werte einer ständigen Aushandlung: Wer bestimmte Werte in einem Unternehmen also ernsthaft leben will, sollte lebendige, diskursive Formate für Mitarbeitende aller Hierarchieebenen und Verantwortungsbereiche etablieren. Wichtig ist auch, dass diese Aushandlung und gegenseitige Vergewisserung nicht direkt zweckgebunden ist und beispielsweise ökonomischen Zielvorstellungen unterliegt.

Viele Dinge, die Unternehmen auch hätten freiwillig einführen können, musste der Gesetzgeber mit Regulatorik übernehmen: Frauenquote, Nachhaltigkeit… Woran liegt das in deinen Augen?

Kulturänderungen brauchen Zeit. Trägheit und Gewohnheit sind hemmende Faktoren, die aber zugleich eine Kultur ausmachen. Kultur lebt von einer Selbstverständlichkeit, die nicht nur nicht starr werden darf, sondern sich anpassen muss. Sie entwickelt sich permanent weiter im Hinblick auf neue Herausforderungen, wenn sie denn eine starke Kultur ist. Um die Widerstände dabei zu überwinden, bedarf es eines Veränderungsprozesses im gesellschaftlichen Diskurs und innerhalb der Unternehmen, die das ernst nehmen und ihre Kultur aktiv verändern. Gesetze und Regeln können dabei beschleunigend wirken.

Wann wird Kultur wirksam?

Die eigentliche nachhaltige Wirkung wird wohl dadurch erzielt, dass die gewohnten Einstellungen infrage gestellt werden: „Ihr habt keine weibliche Führungskraft in euren Reihen?“ „Ihr verpackt eure Waren immer noch in Kunststoffen?“ Beides sollte aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. In diesem Fall können wir Unternehmen und Gesellschaft auch nicht getrennt voneinander betrachten. Was im Unternehmen an Werten gelebt oder nicht gelebt wird, wird ebenso in die Gesellschaft getragen. Insofern gestalten Unternehmen mit ihrer spezifischen Kultur immer auch die gesellschaftliche Entwicklung mit.

Wo geht Ethik im Unternehmen häufig verloren?

In der Regel beginnt der Fisch vom Kopf her zu stinken. Wer im Unternehmen bestimmte Werte leben will, muss in der Führungsposition Vorbild sein. Ist der ernsthafte Anspruch einer Werteorientierung vorhanden, kann es dennoch an der Umsetzung scheitern. So wird es beispielsweise nicht gelingen, eine Haltung rein quantitativ über Zahlen zu implementieren. Systemisch betrachtet ist das mittlere Management in der schwierigen Situation, die Vorgaben von oben, welche durchaus widersprüchlich sein können, selbst vorzuleben.

Apropos Mitarbeiter: Verlangen wirklich so viele nach ethisch sauberem Verhalten seitens des Unternehmens? Oder endet das an der Stelle, wo es dem eigenen Bonus zuwiderläuft?

Letzteres ist in der Tat ein realer Konflikt. Die Anforderung besteht jedoch gerade darin, Werte im Unternehmen so konsistent zu vertreten, dass genau dieser Konflikt gar nicht erst entstehen kann. Außerdem spielen ethische Fragen für Mitarbeiter wie Kunden eine immer wichtigere Rolle. Für ein Unternehmen, das sich ethisch taub stellt, kann das zum realen Problem werden, weil dort Mitarbeiter abspringen oder gar nicht erst kommen wollen.

Purpose gilt als ein Zauberwort der Stunde. Die Menschen wollen Sinn in ihrer Arbeit sehen. Kann es für über 40 Millionen Erwerbstätige genug Berufe geben, die von hoher Sinnhaftigkeit geprägt sind?

Dass mehr Menschen heute mit ihrer Arbeit einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch einfordern, ist ein Indiz dafür, dass gute Arbeit mehr als gutes Gehalt bieten muss. Das ist aus ethischer Sicht erfreulich. Ob sich der Begriff des „Purpose“ jedoch auf die Gesamtheit der ausgeübten Berufe übertragen lässt, kann man durchaus in Frage stellen. Wirtschaftsethik bedeutet im Zweifelsfall auch eine Kritik der wirtschaftlichen und sozialen Umstände, also z.B. dessen, was man früher „entfremdete Arbeit“ nannte: stupide, abstumpfende Tätigkeiten, die nicht wertgeschätzt werden.

Inwiefern kann der bewusste Umgang mit dem eigenen ethischen Verhalten eine Kraftquelle sein?

Die ethische Auseinandersetzung erfordert zunächst einmal, die eigenen Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und immer wieder zu prüfen. Anders als beim Urvertrauen müssen wir uns die ethische Ausrichtung durch Selbstreflexion aktiv erarbeiten. Dieser ehrliche Umgang mit uns selbst kann irritierend sein und verunsichern. Lassen wir uns jedoch darauf ein, so können wir aus dieser Arbeit durchaus Kraft und Selbstbewusstsein ziehen. Ich denke, gerade in einer zunehmend agilen Arbeitswelt, die ein hohes Maß an Eigenverantwortung ermöglicht, aber auch einfordert, ist es umso wichtiger auf einen inneren Kompass und ein solides Wertefundament bauen zu können. Sollte im Arbeitskontext Selbstbestimmung mit Selbstüberlassung verwechselt werden, so liegt es an einem selbst, die eigenen physischen, psychischen und eben moralischen Grenzen zu definieren und notfalls auch die Konsequenzen zu ziehen.

Haben die Menschen zu hohe Ansprüche an den Zweck ihrer Arbeit?

Ich denke jeder sollte einen Anspruch haben dürfen, seine Arbeit als Beitrag zu einem gemeinsamen Ziel zu sehen, welches wiederum als sinnvoll zu erachten ist.

Vielen Dank, Lorenz, für das Gespräch!

Die Thales-Akademie bietet berufsbegleitende Weiterbildungen in Wirtschaftsethik, Digitalethik und Medizinethik an. Sie richtet sich damit an zukünftige sowie erfahrene Verantwortungsträger:innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft, insb. an Fach- und Führungskräfte aus KMUs und internationalen Unternehmen, an Organisationsberater:innen sowie Leitungspersonen öffentlicher Institutionen.