Corona als Zeitenwende bei der Vergütung?

Corona als Zeitenwende bei der Vergütung?

Vergütung ist in der Fläche kein Feld radikaler Veränderungen. Die Berechenbarkeit und die Verlässlichkeit von Gehältern und Gehaltsentwicklungen sind aus individueller und sogar gesellschaftlicher Sicht von großer Bedeutung. In vielen Teilen – man denke nur an die vielen tariflich Beschäftigten in Deutschland – ist die Entwicklung der Vergütung stark institutionalisiert.

Das betrifft sowohl die Frage, wie viel gezahlt wird als auch die Frage, wie Vergütung grundsätzlich strukturiert ist. Tiefgreifende oder gar radikale Veränderungen erleben wir bei der Vergütung eigentlich höchstens auf Ebene einzelner Unternehmen und auch dort oft nur für bestimmte Mitarbeitendengruppen. Dennoch könnten die Veränderungen, mit denen wir in den kommenden Jahren rechnen können, gegebenenfalls deutlicher ausfallen als in anderen Jahren. Das liegt auch daran, dass viele Unternehmen und Arbeitnehmende aus der notwendigen Improvisation der Corona-Krisenmonate hinaustreten und in einen neuen Zustand – das so genannte New Normal – eintreten. Im Folgenden gehen wir auf einige dieser Veränderungen beziehungsweise auf Fragen, die sich in diesem Kontext ergeben, kurz ein.

Wie wirkt die Inflation?

Kienbaum veröffentlicht jedes Jahr im Sommer eine Prognose für die Gehaltsentwicklung im jeweils kommenden Jahr. Im Fokus stehen dabei ausgewählte Länder aus Europa, Asien und Amerika. Aus dem Vergleich unterschiedlicher Volkswirtschafen zeigt sich ein Ergebnis sehr deutlich: der starke Zusammenhang zwischen der erwarteten Inflation und der Gehaltsentwicklung. In Ländern, die traditionell hohe Inflationsraten verzeichnen, ist eine höhere nominale Entwicklung der Gehälter notwendig als in Ländern mit niedriger Inflation, um eine Steigerung der Reallöhne zu erreichen. Am oberen Ende der Skalen für Inflation und Gehaltsentwicklung stand in diesem Jahr beispielsweise die Türkei mit einer hohen Inflation von 11,8 % sowie einer ebenfalls hohen durchschnittlichen Gehaltssteigerung laut unserer Prognose von 14,4 %.

Auch in Deutschland können wir für die kommenden Monate von einer erhöhten Inflation ausgehen. Im Oktober 2021 lag die Inflationsrate in Deutschland zum Beispiel bei 4,5 %. Die Europäische Zentralbank (EZB) sowie eine Vielzahl europäischer Finanzminister gehen jedoch momentan davon aus, dass sich die derzeit vergleichsweise hohe Inflation im Laufe des nächsten Jahres wieder auf ein aus den letzten Jahren gewohntes Niveau von 1,5 – 2,0 % einpendeln wird. Es mehren sich jedoch die Stimmen, die davon ausgehen, dass sich die Inflation – unter anderem aufgrund voraussichtlich weiter steigender Energiepreise – dauerhaft auf einem höheren Niveau einpendeln könnte. Somit ist es durchaus denkbar, dass der Druck auf eine deutlichere Anpassung von Vergütungen gerade (aber nicht ausschließlich) bei Schlüsselfunktionen zunimmt. Diese dürfte einige Unternehmen, die sich noch von den Auswirkungen der Krise erhöhen, kostenseitig vor Herausforderungen stellen. Somit sind schon im Jahr 2022 intelligente und gesamthafte Lösungen gefragt.

Wie verändert sich die Bedeutung von Arbeit?

Im Zuge der Corona-Pandemie haben beispielsweise viele Arbeitnehmende aus dem Gastronomie- und Freizeitgewerbe oder im stationären Einzelhandel ihre Jobs verloren oder lange Zeit in Kurzarbeit verbracht. Gerade am Anfang der Pandemie waren diese Erfahrungen für viele Arbeitnehmende schmerzhaft. Ein, soweit man das sagen kann, positiver Nebeneffekt war dabei die gewonnene Freiheit bei der Suche nach einem neuen Job, oft in einer anderen Branche. Bei vielen entstand während der Zeit der Pandemie ein neuer Fokus bei der Auswahl der neuen Arbeitsstätte. Die Arbeit sollte sich nach Möglichkeit der aktuellen Lebenssituation anpassen – und nicht andersherum. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Menschen durch die Pandemiesituation mehr Zeit bei und mit ihrer Familie verbrachten und eigene Bedürfnisse weiter in den Vordergrund rückten. Das Kernstück der Identität von Arbeitnehmern entfernt sich also wieder mehr von der Arbeit und findet sich eher im Bereich der Familie und des sozialen Umfeldes wieder. Außerdem entstand dabei sukzessive eine neue Mentalität, in der ein Jobwechsel häufig nicht länger als ein notwendiges Übel, sondern als eine Verbesserung der Lebensumstände gesehen wird. Somit entsteht durch dieses neue Bewusstsein, sowie vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels, ein höherer Druck auf Unternehmen, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Dieser Effekt begann, wie eingangs beschrieben, eher im Bereich von Niedriglohnjobs, breitet sich nun jedoch auch immer weiter in andere Gesellschaftsschichten aus. Heute sind vor allem Fachkräfte in der Position, sich ihren Job nahezu aussuchen zu können. Das bringt Arbeitnehmende in 2022 in vielen Branchen in eine starke Verhandlungsposition und setzt Arbeitgeber unter Druck, für attraktive Arbeits- und Vergütungsbedingungen zu sorgen, die über eine reine Bezahlung hinaus gehen.

Wie verändert sich die Risikopräferenz der Arbeitnehmenden?

Bei den Anstrengungen, eine für den jeweiligen Unternehmenstyp passende Vergütungsstrategie zu wählen, beobachten wir vermehrt eine Polarisierung der Vergütungssysteme und somit auch eine Zweiteilung der Anreizwirkung, die Unternehmen ausstrahlen. Zum einen sehen wir zum Beispiel in vielen mittelständisch geprägten Unternehmen eine höhere Fokussierung auf die Grundvergütung und eine entsprechende Abnahme der variablen Vergütung. Die variable Vergütung wird in diesen Unternehmen zunehmend kollektiv ausgestaltet: Gestärktes Wir-Gefühl, gemeinsames Handeln und Sicherheit des Arbeitsplatzes stehen hier eher im Mittelpunkt. Auf der anderen Seite beobachten wir vor allem bei jungen Wachstumsunternehmen und Start-ups stark risikobehaftete Vergütungssysteme, die bei guter Performance zu teils enormen variablen Anteilen der Vergütung führen können. Durch diese Art der Vergütung werden gerade junge, unabhängige und gut ausgebildete Menschen angesprochen, die eher nach einer stärker (auch individuell) performanceorientierten Vergütung streben. Dadurch sind vor allem in diese Richtung modern ausgerichtete Unternehmen für viele junge Talente attraktiv.

Daraus resultiert die Frage, wo sich Unternehmen in einem diversen und mobilen Arbeitsmarkt positionieren möchten. Müssen eher traditionell aufgestellte Unternehmen sich verändern, um ihrerseits für junge, risikoaffine Talente attraktiv zu bleiben? Und müssen, in einer alternden Gesellschaft, nicht auch Wachstumsunternehmen zumindest mittelfristig auch für ältere, weniger risikoaffine Menschen attraktive Vergütungen bieten? Wer mit Mitte zwanzig eine stark performance-basierte Vergütung präferiert, möchte möglicherweise nach einigen Jahren, mit geänderter Lebenssituation und eigener Familie, etwas mehr Sicherheit und Planbarkeit genießen. Die Herausforderung könnte schon in 2022 darin bestehen, sich diesen beiden Welten zu stellen und sie zu integrieren und weniger sich zwischen ihnen entscheiden zu müssen. Klar ist: Vergütungssysteme müssen sich in einem enger werdenden Arbeitsmarkt mehr an den Bedürfnissen von Talenten ausrichten und auf deren Präferenzen zugeschnitten werden. Andererseits kann in einer klaren Positionierung im Sinne einer Vergütungsphilosophie auch eine Chance zur Differenzierung liegen. Eine klare Vergütungsphilosophie zu entwickeln und zu kommunizieren kann somit aktiv als Instrument zur Gewinnung von Talenten genutzt werden. Gerade hier fehlt es bei vielen Unternehmen noch an transparenten Kommunikationsstrategien.

Kommen wir von der Individualisierung über die Kollektivierung zur Differenzierung?

Bei der Wahl der Vergütungssysteme und der möglichen differenzierten Anwendung stellt sich die Frage nach den richtigen Instrumenten. In der jüngsten Vergangenheit gab es bei vielen Unternehmen eine Abkehr vom individuellen Performance Management hin zu kollektiven Zielen. Die Festlegung und Überprüfung von kollektiven Zielen reduzieren die administrativen Abläufe, die durch individuelle Zielvereinbarungen entstanden sind. Nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch um Egoismen entgegenzutreten und die gemeinsame Ausrichtung zu unterstreichen, sind viele Unternehmen diesen Weg gegangen. Auch zur Leistungsmessung und -Steuerung wurden andere, nicht direkt mit Vergütung kombinierte Instrumente, gewählt. Vor dem Hintergrund der oben genannten Herausforderungen, steigt der Druck auf die Unternehmen, den Mehrwert einzelner Schlüsselspieler auch entsprechend individuell zu honorieren. Eine differenzierte Betrachtung von geschaffenem Wert ist nötig, um einzelne Mitarbeiter leistungs-, beitrags- und skillgerecht zu vergüten.

Aus diesem Grund müssen nun neue Instrumente greifen – die anders als Zielvereinbarungssysteme, die starr auf das Geschäftsjahr ausgelegt sind – auch individuelle Leistungsbeiträge flexibel und spürbar honorieren. Differenzierte, auch skill-basierte, Vergütungssysteme sind hier gefragt.

Hot Skills, die gefragte Bewerber mitbringen sollten, müssen anders vergütet werden als Basic Skills. Hierbei spielt auch die Entwicklung, die die Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit durchleben, eine Rolle. Welchen Wert der Mitarbeiter ganzheitlich als Person beitragen kann, kann hierbei schwerer wiegen als die tatsächlichen Tätigkeiten. Die Erbringung von überdurchschnittlichen Leistungen und Beiträgen kann durch Spot Boni, die unterjährig unbürokratisch vergeben werden können, angemessen honoriert werden. Bei all diesen Überlegungen muss nicht immer zwangsläufig das Geld im Vordergrund stehen. Differenzierte, auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter ausgelegte Systeme dürften in Zukunft an Bedeutung gewinnen.

Vergütung als Teil eines nachhaltigen HR-Managements?

Vergütung kann niemals separat betrachtet werden, sondern ist immer Teil eines nachhaltigen HR-Managements. From Hire to Retire. Es beginnt schon vor dem Recruiting und unterstützt das Unternehmen und den Mitarbeiter im gesamten Zyklus. Neben den hier besprochenen Herausforderungen an die Vergütungssystematik stellt die sich ändernde Arbeitswelt weitaus mehr Anforderungen. Ein nachhaltiges und strategieorientiertes Talent Management, welches die Herausforderungen der Zukunft antizipiert, gehört genauso dazu wie ein modernes Performance Management. HR muss eine Antwort auf neue, teilweise agile Rollen geben, welche von den klassischen Karrieren der Vergangenheit abweichen. In neuen Organisationsstrukturen, die flexibler und fließender sind, ist eine klare Abgrenzung von Funktionen, Inhalten, Rollen und Kompetenzen der Mitarbeiter oftmals nicht möglich. Job Grading, als Basis vieler angrenzender HR-Themen, muss teilweise neu gedacht werden, um mit den Veränderungen Stand zu halten. Hier könnten in Zukunft hybride Modell entstehen, die der Wertigkeit einer Stelle auch Aspekte der persönlichen Ausprägungen der zugehörigen Personen beimischen.

Fazit

Dies ist lediglich ein kleiner Ausschnitt der möglichen Herausforderungen, vor denen viele Unternehmen in 2022 und den in den nächsten Jahren stehen. Klassisch funktionale Modelle und Strukturen werden in Ihrer aktuellen Form oftmals nicht mehr funktionieren, und Arbeitgeber müssen auf die veränderten Bedürfnisse von Arbeitnehmern reagieren und diesen im besten Fall proaktiv begegnen. Neue Organisationen und Systeme müssen eine differenzierte Herangehensweise entwickeln und Vergütung als Teil eines ganzheitlichen HR-Managements verstanden werden. Dies ist ein Schritt, den sich verändernden Arbeitsmarktbedingungen erfolgreich zu begegnen.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Comp&Ben Ausgabe 6/Dezember 2021: Zur aktuellen Ausgabe.

 

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