Interview

„Die Energiewirtschaft steht vor einem Kulturwandel“ – Prof. Dr. Tobias Veith über Netzbetreiber, Daten und neue Denkweisen

Netze müssen nicht nur technisch, sondern auch organisatorisch neu gedacht werden. Prof. Dr. Tobias Veith ist Professor für Energiewirtschaft an der Hochschule Rottenburg und Mitgründer von Gridradar. Im Interview mit Kienbaum Berater Christian Räthe spricht er über die Transformation der Energiebranche, die Rolle von Echtzeitdaten und KI, über regulatorische Leitplanken und warum die Zukunft der Energiewende nur im Zusammenspiel von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik gelingen kann.

Prof.Veith

Prof. Dr. Veith

Herr Prof. Veith, Gridradar ist aus einem universitären Kontext entstanden und betreibt heute ein globales Netz an Messsystemen. Wie kam es dazu – und was war Ihre Motivation?
Die Idee zu Gridradar entstand im Rahmen einer Abschlussarbeit an der Hochschule Rottenburg. Wir wollten untersuchen, wie sich Schnellabschaltungen von Großkraftwerken auf das Netz auswirken. Der Zugang zu Daten war dabei äußerst kompliziert – das wollten wir ändern. Ziel war ein offenes, wissenschaftlich nutzbares Messsystem. Heute umfasst unser Portfolio KI-basierte Forecasts, Netzmessungen und Analysen. Unsere Nähe zur Wissenschaft bleibt zentral – unsere Daten stellen wir Forschungseinrichtungen kostenfrei zur Verfügung.

Was macht Ihr System im internationalen Vergleich so besonders?
Es gibt aktuell weltweit kein vergleichbares Messsystem. Unser System nutzt von der Datenerhebung bis zur API und UDP-basierten Bereitstellung von Information unsere proprietäre Lösung. Wir decken mittlerweile rund 30 Prozent der Netze weltweit ab und beabsichtigen bis 2030 unser Messsystem auf mindestens 50 Prozent der weltweiten Netze auszurollen. Enge Kooperationen mit Universitäten weltweit ermöglichen die direkte Verzahnung mit der Wissenschaft. Unser Ziel ist und bleibt, mehr wissenschaftlich fundiertes Knowhow in Aufbau und Nutzung von Stromnetzen zu bringen.

Und wie funktioniert dieses Echtzeit-Messsystem konkret?
Gridradar verbindet Messungen mit eigenen Messgeräten und eine hocheffiziente Datenverarbeitung. Beispielsweise sind wir in der Lage, weltweit Messdaten mit einer Latenz unter 400 Millisekunden bereitzustellen. Dies ist beispielsweise besonders wichtig für Netzbetreiber oder den automatisierten Energiehandel. Stand Februar 2025 umfassten unsere Datenbanken mehr als 65 Mrd. Datenpunkte. Wir verknüpfen diese Daten mit anderen Datenquellen und werten sie automatisiert und mittels KI für die Entwicklung unserer Produkte aus. Gleichzeitig ist unsere Infrastruktur schnittstellenoffen und kann auch für andere High-Performance-Messungen wie Energieflussmessungen in Maschinen oder in Unternehmen genutzt werden. Dadurch ergeben sich immer wieder Analyseprojekte, in denen wir etwa auch Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe mit unseren Messungen unterstützen.

Gridradar Monitoring

Gridradar Monitoring

Was sind denn aktuell die größten Herausforderungen für Netzbetreiber im Kontext der Energiewende?
Die Situation ist recht divers. Es gibt Netzbetreiber, die bereits sehr gut auf die Energiewende vorbereitet sind – technisch (z.B. physische Vorbereitung von Netzelementen wie Trafos oder Leitungsverstärkung) und organisatorisch (Prozesse zur Unterstützung von Netzanschlussbegehren von EE-Anlagen oder Flexibilitäten). Andererseits gibt es eine Vielzahl von Netzbetreibern, die aktuell noch bei der Energiewende eine Strecke vor sich haben.

Wir müssen aber auch bedenken, dass nicht alle Netzbetreiber vor gleichen Herausforderungen stehen. Beispielsweise wird es zukünftig wie heute verbrauchsstärkere Netzgebiete geben und erzeugungsstärkere Netzgebiete. Diese müssen sich auch unterschiedlich entwickeln dürfen.

Welche Rolle spielen Echtzeitdaten und Prognosetools in dieser Transformation?
Im „alten“ System mit konventioneller Erzeugung wurden Kraftwerke an den Energiebedarf angepasst. Zukünftig wird mit Speichern und Flexibilitäten auf die Verfügbarkeit von Wind und Sonne reagiert – und zwar weltweit. Wir sehen bereits jetzt an den Börsen größere Preisschwankungen. Gerade jetzt im Frühjahr sind diese stärker, weil wir aus dem windreichen Winterhalbjahr ins sonnenreiche Sommerhalbjahr wechseln. Daher sehen wir aktuell innerhalb eines Tages öfter mal negative Preise und Preise weit über 100 EUR/MWh an der Strombörse. Im Zuge der Energiewende sollen auch kleinere Unternehmen von solchen Preisschwankungen profitieren können. Dafür sind verlässliche kurzfristige Informationen notwendig.

Gridradar gibt hier Orientierung. Mit Echtzeitinformationen aus eigenen Messungen, nicht nur aus regional unterschiedlichen Wetterdaten. Daher können wir beispielsweise zeitpunktgenau feststellen, ob gerade ein Überschuss oder ein Strommangel im Netz herrscht und wie groß diese sind. Speicherbetreiber und Flexibilitäten können diese Informationen nutzen. Damit optimieren sie nicht nur ihr Portfolio, sondern helfen gleichzeitig dem Gesamtsystem.

Welche Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren im Bereich Stromnetz-Daten und Energiewende?
Wollen wir unsere CO₂-Ziele bis 2050 in Europa erreichen, müssen wir schnell anfangen umzudenken. Die Energiewende ist mit dem Ausbau von PV- und Windkraftanlagen nicht getan. Wir müssen vielmehr den Energiesektor stärker mit Kundensektoren verbinden. Die Sektorenkopplung hilft uns, existierende Synergien zu heben, sei es im Bereich der Wärme- und Abwärmenutzung, durch die Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft oder im Bereich der E-Mobilität und der Nutzung von damit aufwachsender Speicherkapazität.
Ein essenzieller Baustein hierfür sind Netzinformationen. Denn unsere Stromnetze sind der Backbone, wo Erzeugungs-, Verbrauchs- und Speicherinformationen energetisch in Echtzeit zusammenlaufen. Daher helfen Stromnetzdaten Netzkunden.

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz bei dieser Entwicklung?
Wir sehen in künstlicher Intelligenz einen essenziellen Mehrwert bei der Entwicklung unserer Produkte aber auch für die weitere Entwicklung des Energiesektors. Unsere Kunden im Short Term-Trading sind fast ausschließlich sogenannte Algorithm Trader. Unsere Forecastmodelle nutzen unter anderem Mustererkennungen. Wir analysieren dazu umfassend Vergangenheitssituation und entwickeln unsere Modelle auf der Grundlage weiter.

Wie könnte eine engere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Regulierung konkret aussehen?
Die Flexibilisierung nimmt im Energiesektor durch aktuelle Technologiesprünge wie Batterien, bidirektionales Laden von E-Autos oder den Ausbau von Elektrolyseuren massiv an Fahrt auf. Dies ermöglicht neue, kurzfristig orientierte Geschäftsmodelle für etablierte und für neue Akteure. Das Potenzial für Markt und Netz braucht aber auch eine gewisse Flexibilität in der Regulierung. Neue Wege in der Regulierung müssen Leitplanken für gesellschaftlich gewünschte Veränderungen bieten. Daher ist es geboten, dass Wissenschaft, Wirtschaft und Regulierung enger zusammenarbeiten. Denn die Verfolgung von Partikularinteressen oder auch ein Mikromanagement in der Regulierung lässt uns die großen Herausforderungen nicht lösen. Da ist der stets interessenoffene Blick auch über den nationalen Tellerrand hinaus hilfreich.

Was motiviert Sie persönlich, an der Transformation der Energiewirtschaft mitzuarbeiten?
Ich finde es spannend, an der Grenze von anwendungsorientierter Forschung, Beratung und enger Kooperation mit Unternehmen arbeiten zu dürfen und gleichzeitig meinen Studierenden brandaktuelles Praxiswissen weitergeben zu können. Die Energiewirtschaft verändert sich kontinuierlich weiter. Daher ist es für mich wichtig, stets das Ohr am Gleis zu halten. Das geht nur, wenn Forschung nicht im Elfenbeinturm stattfindet. Daher ist es mir seit meinem Schritt zurück an die Hochschule wichtig, dass ich auch weiterhin für und mit Unternehmen und Regulierungsbehörden arbeiten kann. Gridradar ist für mich eine glückliche Fügung. Denn dadurch kann ich mein statistisches Interesse praxisorientiert einsetzen und gleichzeitig bis zu einem gewissen Grad auch Studierenden die Möglichkeit bieten, ihr Wissen zu Netzen nicht nur in der Theorie, sondern mit stets aktuellen Daten und Informationen zu testen und zu erweitern.

Vielen Dank für das Gespräch!